Warum reagierst du manchmal genau wie deine Eltern, obwohl du es dir fest vorgenommen hattest, es anders zu machen? Transgenerationale Traumata können wie unsichtbare Fäden wirken, die unser Erziehungsverhalten mit dem unserer Vorfahren verbinden. Doch die gute Nachricht ist: Du kannst diesen Kreislauf durchbrechen und deinen Kindern einen neuen, heilsameren Weg ermöglichen.
Viele von uns kennen diesen Moment: Wir hören plötzlich Worte aus unserem Mund, die unsere Eltern zu uns gesagt haben, oder wir reagieren in Stresssituationen genau wie sie – obwohl wir uns geschworen hatten, es anders zu machen. Das ist kein Zufall. Wissenschaftler*innen sprechen von transgenerationalen Traumata, wenn belastende Erfahrungen und deren Bewältigungsmuster über Generationen weitergegeben werden. Diese Weitergabe geschieht nicht nur durch bewusstes Vorleben, sondern auch durch unbewusste Verhaltensweisen, Kommunikationsmuster und sogar auf biologischer Ebene.
1. "Sei stark, zeig keine Schwäche!" – Wenn Gefühle keinen Platz haben dürfen
In vielen Familien herrscht seit Generationen ein unausgesprochenes Gesetz: Gefühle, besonders negative, werden nicht gezeigt. Vielleicht kennst du Sätze wie "Reiß dich zusammen" oder "Ein Indianer kennt keinen Schmerz". Diese emotionale Unterdrückung hat oft historische Wurzeln – in Kriegszeiten oder wirtschaftlichen Notlagen war emotionale Härte manchmal überlebenswichtig.
Heute wissen wir jedoch, dass unterdrückte Gefühle nicht verschwinden, sondern sich in Körper und Psyche manifestieren. Wenn du als Kind gelernt hast, deine Trauer, Angst oder Wut zu verbergen, fällt es dir wahrscheinlich auch als Erwachsener schwer, diese Emotionen zuzulassen und auszudrücken. Noch schwieriger kann es sein, mit den intensiven Gefühlen deiner Kinder umzugehen.
Der erste Schritt zur Veränderung ist das Erkennen dieses Musters. Beobachte, wann du dazu neigst, Gefühle abzuwehren – bei dir selbst und bei deinen Kindern. Beginne damit, Emotionen zu benennen und ihnen Raum zu geben. "Ich sehe, dass du wütend bist" oder "Ich bin jetzt traurig" sind einfache Sätze, die eine neue emotionale Sprache in deiner Familie etablieren können.
2. "Das Leben ist kein Zuckerschlecken" – Der Kreislauf von Härte und Strenge
"Aus dir soll mal was werden" oder "Das Leben ist hart, gewöhn dich dran" – solche Botschaften prägen oft Familien, in denen Leistung und Disziplin über allem stehen. Dieses Trauma entsteht häufig aus eigenen Mangelerfahrungen der Eltern oder Großeltern, sei es materieller oder emotionaler Art.
Wenn du in einer solchen Umgebung aufgewachsen bist, hast du vielleicht gelernt, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist und nur durch Leistung verdient werden kann. Als Elternteil kannst du nun unbewusst ähnliche Erwartungen an deine Kinder stellen, auch wenn du sie eigentlich vor Druck schützen möchtest.
Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, hilft es, deine eigenen Werte zu reflektieren: Was bedeutet Erfolg wirklich für dich? Welche Botschaft möchtest du deinen Kindern über ihren Wert als Mensch vermitteln? Versuche, deinen Kindern regelmäßig zu zeigen, dass du sie bedingungslos liebst – unabhängig von ihren Leistungen. Ein "Ich bin stolz auf dich, weil du es versucht hast" kann manchmal wertvoller sein als Lob für perfekte Ergebnisse.
3. "Darüber spricht man nicht" – Das Schweigen über Familiengeheimnisse
Manche Familien tragen schwere Geheimnisse mit sich: Suchterkrankungen, psychische Störungen, Gewalt oder andere belastende Erfahrungen, über die nicht gesprochen wird. Dieses Schweigen schafft eine Atmosphäre der Unsicherheit und Verwirrung, in der Kinder lernen, ihren eigenen Wahrnehmungen nicht zu trauen.
Wenn in deiner Herkunftsfamilie wichtige Themen tabuisiert wurden, kann es sein, dass du diese Kommunikationsmuster unbewusst fortführst. Vielleicht fällt es dir schwer, offen über Probleme zu sprechen oder unangenehme Wahrheiten anzusprechen.
Der Weg aus diesem Trauma führt über eine neue Kommunikationskultur. Beginne damit, altersgerecht und ehrlich mit deinen Kindern zu sprechen – auch über schwierige Themen. Das bedeutet nicht, sie mit Details zu überfordern, sondern ihnen zu vermitteln: In unserer Familie dürfen alle Themen angesprochen werden, und Fragen sind willkommen. So lernst du selbst, dass Offenheit nicht bedrohlich ist, sondern Verbindung schafft.
4. "Pass auf dich selbst auf" – Wenn Kinder zu früh erwachsen werden müssen
Parentifizierung ist ein häufiges transgenerationales Trauma, bei dem Kinder zu früh in Erwachsenenrollen gedrängt werden. Dies geschieht oft in Familien, in denen Eltern durch eigene Belastungen, Krankheiten oder Überforderung nicht vollständig präsent sein können.
Wenn du als Kind für jüngere Geschwister sorgen musstest, emotionale Stütze für einen Elternteil warst oder früh Verantwortung übernehmen musstest, kann dies tiefe Spuren hinterlassen haben. Als Erwachsener neigst du vielleicht dazu, übermäßig für andere zu sorgen, eigene Bedürfnisse zurückzustellen oder Schwierigkeiten damit zu haben, Hilfe anzunehmen.
Als Elternteil besteht die Gefahr, dass du unbewusst zu viel Verantwortung an deine Kinder abgibst oder von ihnen emotionale Unterstützung erwartest. Um dieses Muster zu durchbrechen, ist es wichtig, ein gesundes Gleichgewicht zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge zu finden. Suche dir ein unterstützendes Netzwerk aus Freunden, Familie oder professionellen Helfern, damit du nicht auf deine Kinder als emotionale Stütze angewiesen bist. Erlaube dir selbst, Hilfe anzunehmen, und zeige deinen Kindern, dass auch Erwachsene nicht alles alleine schaffen müssen.
Heilung ist möglich – für dich und deine Kinder
Das Erkennen und Durchbrechen transgenerationaler Traumata ist keine leichte Aufgabe, aber eine, die tiefgreifende positive Veränderungen für dich und deine Familie bringen kann. Sei geduldig mit dir selbst – Muster, die über Generationen entstanden sind, lassen sich nicht über Nacht verändern.
Der wichtigste Schritt ist bereits getan: Du bist dir bewusst, dass diese Muster existieren und möchtest sie verändern. Diese Bewusstheit alleine unterbricht bereits den automatischen Kreislauf der Weitergabe. Jedes Mal, wenn du innehältst und eine bewusste Entscheidung für einen anderen Weg triffst, schaffst du neue, gesündere Verbindungen in deinem Gehirn – und legst den Grundstein für eine andere Zukunft deiner Kinder.
Denke daran: Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Auch wenn du manchmal in alte Muster zurückfällst, kannst du immer wieder neu beginnen. Deine Kinder brauchen keine fehlerfreien Eltern, sondern Eltern, die bereit sind zu wachsen und aus Fehlern zu lernen. Mit jedem Schritt, den du auf deinem Heilungsweg gehst, öffnest du nicht nur für dich, sondern für die gesamte nächste Generation neue Möglichkeiten.







