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Gute-Nacht-Geschichten

Der Schmetterling

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von Tatjana Zimmer

Amanda ist neu in der Klasse. Alle bewundern sie, weil sie so erwachsen ist. Mimi sitzt in der Schule neben ihr. Doch plötzlich ist Amanda gemein zu Mimi.

Amanda ist schuld! Amanda ist an allem schuld! Ich hasse Amanda! Diese Worte hämmern in Mimis Kopf, als sie vom Schulhof läuft. A-man-da! Ihre Füße stampfen wütend den Rhythmus, während sie läuft. Sie versucht, die Tränen zu unterdrücken, sie runterzuschlucken, aber es klappt nicht.

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Ich will nicht weinen, denkt Mimi und kneift sich fest in den Unterarm, um sich abzulenken. Nur Babys weinen! Und Mimi ist ja kein Baby mehr. Sie ist schon 9 Jahre alt. Aber weinen muss sie jetzt trotzdem. So sehr sie sich auch kneift, die Tränen kullern. Und je mehr sie weinen muss, desto wütender wird sie auf sich selber - denn sie will das ja eigentlich gar nicht - und auf Amanda natürlich auch, weil Amanda mal wieder schuld ist.

Am Anfang mochte Mimi Amanda. Alle mochten Amanda. Amanda kam zum Schuljahresanfang neu in die Klasse. Sie ist schon älter als alle anderen, schon 11 Jahre alt. Und schon sehr erwachsen, findet Mimi. Sie wäre auch gern wie Amanda.

Mimi rennt noch schneller. Das Rennen ist anstrengend mit der schweren Schultasche, die bei jedem Schritt gegen ihren Rücken schlägt. Amanda schminkt sich schon, so mit Puder und Lidschatten. Amanda trägt schon einen BH. Amanda hat immer schicke Klamotten, so, wie die Sängerinnen in den Videoclips. Amanda hat ein rosafarbenes Handy mit Glitzer dran. Amanda hat blonde Strähnchen in den Haaren. Amanda hat einfach alles.

Mimi geht die Puste aus. Sie kann nicht mehr rennen, weil sie keine Luft mehr bekommt und ihr Herz so wummert. Aber heulen, das kann sie noch. Und sie ärgert sich, weil ihr Körper noch die Kraft zum Heulen hat, aber nicht mehr zum Laufen. Dabei würde sie doch gerne noch viel weiter weglaufen, ganz weit weg, aber sie kann immer noch nicht wieder richtig atmen. Erschöpft setzt sie sich auf den Bordstein, schmeißt die Schultasche neben sich und stützt die Ellenbogen auf die Knie.

Heute ist sie mal froh, dass Mama nicht zu Hause ist. Mama kommt immer erst um vier nach Hause, seit Papa seinen Job wechseln musste. Weil ansonsten das Geld nicht mehr reicht, haben sie ihr erklärt. Sie geht jetzt auch arbeiten, als Verkäuferin in einem Klamottenladen. „Boutique“ nennt sie den. Es ist ein schöner Laden, ganz hell mit vielen tollen Kleidern. Und Schmuck haben sie auch. Mimi geht manchmal nach der Schule hin. Die Chefin ist sehr nett - Frau Bergmüller heißt sie - und sie erlaubt Mimi, Sachen anzuprobieren und sich Ketten und Armreifen umzuhängen in der Umkleidekabine mit dem großen Spiegel. Mimi fühlt sich dann sehr erwachsen.

Trotzdem ist Mimi meistens traurig, dass Mama nicht mehr da ist und wie früher auf sie wartet, wenn sie nach Hause kommt. Aber heute ist das gut so. Sie will auch heute nicht zu Mama in den Laden. Mama soll nicht sehen, dass sie geweint hat, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen, weil Amanda Mimi immer ärgert. Amanda kann Mimi nämlich nicht leiden. Wie das kam, weiß Mimi auch nicht.

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Neue Freundin

Nach den Sommerferien hat Frau Witter, die Klassenlehrerin, sie mitgebracht und sie vorgestellt. „Das ist Amanda. Sie ist neu hier in die Gegend gezogen!“, hat sie gesagt. Und dann hat sie Amanda den Platz neben Mimi zugeteilt, denn Achim, der dort vorher saß, hat das Schuljahr nicht geschafft und ist wieder in der dritten Klasse. Mimi und die anderen sind jetzt ja schon in der vierten.

„Hallo, ich bin Amanda!“, hat Amanda gesagt, gelächelt und sich neben Mimi gesetzt. Und Mimi hat sich gefreut, ja, sie war sogar ganz stolz, dass Amanda neben ihr saß, denn es waren alle neidisch auf sie, weil jeder neben Amanda sitzen wollte.

In der Pause hat Amanda erzählt, dass sie aus der Großstadt hierher gezogen sei und dass sie das gar nicht wollte. Und dann hat sie ihr Handy rausgeholt und da sind alle grün und gelb geworden vor Neid. Klar, Sebastian und Tina, Mimis beste Freundin, haben auch Handys und ein paar andere auch noch, aber niemand hat so ein schickes Handy wie Amanda.

Man kann es aufklappen, es ist winzig klein und rosa. Mimi war ganz besonders neidisch. Ihre Eltern erlauben ihr kein Handy. Weil sie dazu noch zu jung sei und das gar nicht brauche, sagen sie immer.

Amanda hat Mimi aber erlaubt, das Handy anzugucken. Und sie hat ihr auch erklärt, was man damit alles machen kann. Da, wo sie herkomme, hätten alle Kinder Handys, hat sie gesagt. Und dann hat sie auf dem Schulhof Tanzschritte vorgemacht. Es sah fast so aus, wie bei den Sängerinnen aus den Musikvideos.

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Die Jungs haben zwar gelacht, aber heimlich haben sie alle Amanda angeschaut und bewundert. Die Mädchen haben alle mitgemacht, Mimi und Tina auch. Und Mimi war noch viel zufriedener als vorher, dass Amanda neben ihr saß.

Aber seit einer Woche ist alles anders. Es fing mit dieser blöden Mathearbeit an. Mimi hatte eine Eins Minus, Amanda nur eine Fünf. Und in dem Diktat, das sie bei Frau Witter geschrieben hatten, hatte Mimi eine Zwei Plus und Amanda wieder eine Fünf.

Mimi war schon immer gut in der Schule, aber sie hat sich nie etwas darauf eingebildet. Sie lernt auch nicht besonders viel zu Hause, sie macht nur ihre Hausaufgaben und passt im Unterricht gut auf, das reicht.

Amanda passt nie auf im Unterricht, sie spielt immer bloß mit ihrem Handy. Und die Hausaufgaben schreibt sie meistens vor der Stunde bei Mimi ab.

Aber plötzlich war Amanda komisch zu Mimi. „Streberin“ hat sie sie genannt - vor allen anderen. Und dass Mimi nicht so klug sei, wie sie denke. Und überhaupt sei sie ein Baby, weil sie kein Handy habe und weil sie Kinderklamotten anhabe und sich nicht schminke. Mimi darf sich nicht schminken. Neue Kleider kriegt sie auch meist erst, wenn sie aus den alten herausgewachsen ist. Weil sie ja sparen müssen, Mama und Papa.

Mimi schlägt mit der Faust auf den Bürgersteig, ganz fest, so fest sie kann. Sie schreit auf. „Au!“ Jetzt blutet die Hand. Aber die Wut, die ist immer noch da, ganz tief in ihrem Bauch.

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Seitdem macht Amanda sich nämlich jeden Tag über Mimi lustig und nennt sie ein Baby. Und alle machen mit. Sogar Tina, die früher immer Mimis beste Freundin war, redet kaum noch mit Mimi. Gestern hat Mimi Tina gefragt, ob sie mal wieder zusammen schwimmen gehen wollen nach der Schule, da ist Amanda sofort angekommen und hat gesagt: „Tina ist schon mit mir verabredet! Wir wollen zusammen Musik hören. Schwimmen ist doch was für kleine Kinder!“ Sie hat Tina mit sich weggezogen und Mimi stand alleine da.

Aber noch nie hat Amanda etwas gemacht, was so gemein war, wie heute! Das war nämlich so: Gestern Mittag nach der Schule war Mimi bei ihrer Mama im Laden, weil sie so traurig war, dass Tina nicht mehr ihre Freundin sein wollte. Ihre Mama hat sie getröstet. Das hat Frau Bergmüller mitbekommen und da hat sie gesagt: „Wollen wir doch mal sehen, ob wir etwas finden, was die kleine Mimi wieder glücklich macht!“ Dann durfte Mimi sich eine große glitzernde Brosche aussuchen aus der neuen Lieferung.

Sie hat sich einen blaugrünen Schmetterling ausgesucht. Er sieht aus, als wäre er aus tausend kleinen Diamanten zusammengesetzt. „Nein, Mimi, Diamanten sind das nicht!“, hat Frau Bergmüller gelacht, als sie ihr das gesagt hatte. „Das ist nur Strass!“ Dann hat sie ihr über den Kopf gestreichelt.

Mimi weiß nicht so genau, was Strass ist, aber das ist ihr auch egal, denn die Brosche ist wunderschön. Und vielleicht - ganz vielleicht - hat Frau Bergmüller ja Unrecht und es sind doch Diamanten … Oder besser: Vielleicht waren es Diamanten, denn die Brosche ist ja weg. Und daran ist Amanda schuld!

Bei dem Gedanken steigen Mimi wieder die Tränen in die Augen. Mimi hat sich die Brosche natürlich angesteckt, bevor sie heute Morgen in die Schule gegangen ist. Sie hat sich schon so gefreut auf die Gesichter der anderen, wenn sie die Brosche sehen würden. Und es haben auch alle aus der Klasse geschaut, jedenfalls die Mädchen.

Tina ist sofort angekommen und hat gesagt: „Oh, Mimi, was hast du für eine tolle Brosche!“

Und Mimi hat erzählt, dass es fast echte Diamanten seien. Alle Mädchen aus der Klasse haben daraufhin den Schmetterling bewundert. Nur Amanda nicht. Die hat die ganze Zeit ganz komisch geguckt, hat aber nichts gesagt.

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Nach der dritten Stunde hatten sie Schulschluss, weil die Deutschlehrerin krank war. Nach dem Unterricht kam Tina zu Mimi und fragte: „Wollen wir gleich zusammen Hausaufgaben machen?“ Aber sofort war Amanda da und stellte sich zwischen die beiden. „Lass Tina in Ruhe!“, hat sie gesagt. „Du bist eine blöde Angeberin! Und deine Brosche ist total hässlich!“

Verzweifelt

Dann hat sie Mimi die Brosche vom Pulli gerissen und die Brosche aus dem Fenster geworfen, ganz, ganz weit hinaus ins Gebüsch, so weit, dass sie sicher niemals jemand wiederfindet. „Heul doch, du Baby!“, hat sie zu Mimi gesagt, ganz höhnisch, als dieser die Tränen in die Augen schossen. Und dann weiß Mimi nur noch, dass sie weggerannt ist, weil sie nicht vor Amanda und vor Tina weinen wollte.

Und jetzt sitzt sie hier auf dem Bordstein, viele Leute gehen an ihr vorbei, Autos fahren auf der Straße, aber Mimi nimmt das alles nicht wahr. Sie weint ganz bitterlich, den Kopf auf die Knie gelegt. Sie weint, weil die Brosche weg ist. Und weil die Hand so weh tut. Und weil Tina nicht mehr ihre Freundin ist. Und weil es Amanda gibt. Und weil niemand da ist, der sie in den Arm nimmt.

Es ist unglaublich, wie viele Tränen Mimi in sich hat. Ihre Jeans ist schon ganz nass vor lauter Tränen. Plötzlich spürt sie eine Bewegung neben sich, fühlt einen Arm um ihre Schulter. Sie dreht den Kopf ein bisschen und sieht Tina.

„Nicht weinen!“, sagt Tina. „Amanda ist gemein. Ich will nicht ihre Freundin sein!“ Und dann fasst Tina Mimi an der Hand - die Hand tut jetzt auch schon gar nicht mehr so weh - und zusammen gehen sie zurück.

Hand in Hand gehen sie zu Tina, um zusammen Hausaufgaben zu machen. Und danach wollen sie schwimmen gehen, weil das nämlich nicht nur etwas für Babys ist. Und sie schwören sich, in Zukunft immer zusammenzuhalten. Mit Amanda wollen sie gar nicht mehr reden. Außerdem wollen sie aufpassen, dass Amanda auch niemand anderen aus der Klasse ärgert, weil sie zusammen stark sind.

Und dann, ganz plötzlich und unerwartet, zieht Tina den Schmetterling aus der Tasche. „Da!“, strahlt sie. „Den hab ich dir wiedergeholt. Er lag ganz tief im Gebüsch, aber ich hab ihn gefunden!“

Mimi freut sich schrecklich doll, aber dann schenkt sie den Schmetterling Tina, weil Tina ihre Freundin ist und Amanda zwar alles hat, sogar ein Handy, aber eines, das fehlt ihr: eine beste Freundin wie Tina. Und Tina ist viel besser als jedes Handy der Welt - auch als ein klitzekleines rosafarbenes.

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