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Die zertanzten Schuhe (4-10 Jahre)

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Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter, eine immer schöner als die andere. Sie schliefen zusammen in einem Saal, wo ihre Betten nebeneinander standen, und abends wenn sie darin lagen, schloss der König die Tür zu und verriegelte sie. Wenn er aber am Morgen die Türe aufschloss, so sah er, dass ihre Schuhe zertanzt waren, und niemand konnte herausbringen, wie das zugegangen war. Da ließ der König ausrufen, wer ausfindig machen könnte, wo sie in der Nacht tanzten, der solle sich eine davon zur Frau wählen und nach seinem Tod König sein. Wer sich aber meldete und es nach drei Tagen und Nächten nicht herausbrächte, der hätte sein Leben verwirkt.

Nicht lange, so meldete sich ein Königssohn und erbot sich, das Wagnis zu unternehmen. Er ward wohl aufgenommen und abends in ein Zimmer geführt, das an den Schlafsaal stieß. Sein Bett war da aufgeschlagen, und er sollte Acht haben, wo sie hingingen und tanzten; und damit sie nichts heimlich treiben konnten oder zu einem andern Ort hinausgingen, war auch die Saaltüre offen gelassen. Dem Königssohn fiel es aber wie Blei auf die Augen und er schlief ein, und als er am Morgen aufwachte, waren alle zwölfe zum Tanz gewesen, denn ihre Schuhe standen da und hatten Löcher in den Sohlen.

Den zweiten und dritten Abend ging es nicht anders, und da ward ihm sein Haupt ohne Barmherzigkeit abgeschlagen. Es kamen hernach noch viele und meldeten sich zu dem Wagestück, sie mussten aber alle ihr Leben lassen. Nun trug es sich zu, dass ein armer Soldat, der eine Wunde hatte und nicht mehr dienen konnte, sich auf dem Weg zu der Stadt befand, wo der König wohnte. Da begegnete ihm eine alte Frau, die fragte ihn, wo er hin wolle. „Ich weiß selber nicht recht“, sprach er, und setzte im Scherz hinzu, „ich hätte wohl Lust, ausfindig zu machen, wo die Königstöchter ihre Schuhe vertanzen, und danach König zu werden.“ – „Das ist so schwer nicht“, sagte die Alte, „du musst den Wein nicht trinken, der dir abends gebracht wird und musst tun, als wärst du fest eingeschlafen.“

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Darauf gab sie ihm ein Mäntelchen und sprach: „Wenn du das umhängst, so bist du unsichtbar und kannst den zwölfen dann nachschleichen.“ Als der Soldat den guten Rat bekommen hatte, ward es Ernst bei ihm, so dass er ein Herz fasste, vor den König ging und sich als Freier meldete. Er ward so gut aufgenommen wie die anderen auch und ihm wurden königliche Kleider angetan. Abends zur Schlafenszeit ward er in das Vorzimmer geführt, und als er zu Bette gehen wollte, kam die Älteste und brachte ihm einen Becher Wein.

Aber er hatte sich einen Schwamm unter das Kinn gebunden, ließ den Wein da hineinlaufen, und trank keinen Tropfen. Dann legte er sich nieder, und als er ein Weilchen gelegen hatte, fing er an zu schnarchen wie im tiefsten Schlaf. Das hörten die zwölf Königstöchter, lachten, und die älteste sprach: „Der hätte auch sein Leben sparen können.“ Danach standen sie auf, öffneten Schränke, Kisten und Kasten, und holten prächtige Kleider heraus, putzten sich vor den Spiegeln, sprangen herum und freuten sich auf den Tanz. Nur die jüngste sagte: „Ich weiß nicht, ihr freut euch, aber mir ist so wunderlich zumut: Gewiss widerfährt uns ein Unglück.“ – „Du bist eine Schneegans“, sagte die älteste, „die sich immer fürchtet. Hast du vergessen, wie viel Königssöhne schon umsonst da gewesen sind?

Dem Soldaten hätte ich nicht einmal einen Schlaftrunk zu geben brauchen, der Lümmel wäre doch nicht aufgewacht.“ Wie sie alle fertig waren, sahen sie erst nach dem Soldaten, aber der hatte die Augen zugetan, rührte und regte sich nicht, und sie glaubten nun ganz sicher zu sein. Da ging die ÄIteste an ihr Bett und klopfte daran. Alsbald sank es in die Erde, und sie stiegen durch die Öffnung hinab, eine nach der anderen, die Älteste voran. Der Soldat, der alles mit angesehen hatte, zauderte nicht lange, hing sein Mäntelchen um und stieg hinter der Jüngsten mit hinab. Mitten auf der Treppe trat er ihr ein wenig aufs Kleid, da erschrak sie und rief : „Was ist das? Wer hält mich am Kleid?“ ¬ „Sei nicht so einfältig“, sagte die Älteste, „du bist an einem Haken hängen geblieben.“

Da gingen sie vollends hinab, und als sie unten waren, standen sie in einem wunderprächtigen Baumgang, da waren alle Blätter von Silber und schimmerten und glänzten. Der Soldat dachte: „Du willst dir ein Wahrzeichen mitnehmen“ und brach einen Zweig davon ab. Da fuhr ein gewaltiger Krach aus dem Baume. Die Jüngste rief wieder: „Es ist nicht richtig, habt ihr den Knall gehört?“ Die Älteste aber sprach: „Das sind Freudenschüsse, weil wir unsere Prinzen bald erlöst haben.“ Sie kamen darauf in einem Baumgang, wo alle Blätter von Gold, und endlich in einen dritten, wo sie klarer Diamant waren. Von beiden brach der Soldat einen Zweig ab, wobei es jedes Mal krachte, dass die Jüngste vor Schrecken zusammenfuhr, aber die Älteste blieb dabei, es wären Freudenschüsse.

Sie gingen weiter und kamen zu einem großen Wasser, darauf standen zwölf Schifflein, und in jedem Schifflein saß ein schöner Prinz, die hatten auf die zwölfe gewartet, und jeder nahm eine zu sich, der Soldat aber setzte sich mit der Jüngsten hin. Da sprach der Prinz: „Ich weiß nicht. das Schiff ist heute viel schwerer, und ich muss aus allen Kräften rudern, wenn ich es fortbringen soll.“ „Wovon sollte das kommen“, sprach die Jüngste, „als vom warmen Wetter, es ist mir auch so heiß zumut.“ Jenseits des Wassers aber stand ein schönes hell erleuchtetes Schloss, woraus eine lustige Musik erschallte von Pauken und Trompeten. Sie ruderten hinüber, traten ein, und jeder Prinz tanzte mit seiner Liebsten; der Soldat aber tanzte unsichtbar mit, und wenn eine einen Becher mit Wein hielt, so trank er ihn aus, dass er leer war, wenn sie ihn an den Mund brachte. Und der jüngsten ward auch angst darüber, aber die älteste brachte sie immer zum Schweigen.

Sie tanzten da bis drei Uhr am anderen Morgen, bis alle Schuhe durchgetanzt waren und sie aufhören mussten. Die Prinzen fuhren sie über das Wasser wieder zurück, und der Soldat setzte sich diesmal vorne hin zur Ältesten. Am Ufer nahmen sie von ihren Prinzen Abschied und versprachen, in der folgenden Nacht wiederzukommen. Als sie an der Treppe waren, lief der Soldat voraus und legte sich in sein Bett, und als die zwölf langsam und müde heraufgetrippelt kamen, schnarchte er schon wieder so laut, dass sie es alle hören konnten und sie sprachen: „Vor dem sind wir sicher.“ Da zogen sie ihre schönen Kleider aus, brachten sie weg, stellten die zertanzten Schuhe unter das Bett und legten sich nieder.

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Am nächsten Morgen wollte der Soldat nichts sagen, sondern das wunderliche Schauspiel nochmals mit ansehen und ging die zweite und die dritte Nacht wieder mit. Da war alles wie das erste Mal, und sie tanzten jedes Mal, bis die Schuhe entzwei waren. Das dritte Mal aber nahm er zum Wahrzeichen einen Becher mit. Als die Stunde gekommen war, in der er antworten sollte, steckte er die drei Zweige und den Becher zu sich und ging vor den König, die zwölfe aber standen hinter der Türe und horchten, was er sagen würde. Als der König die Frage tat: „Wo haben meine zwölf Töchter ihre Schuhe in der Nacht vertanzt?“ so antwortete er: „Mit zwölf Prinzen in einem unterirdischen Schloss.“

Und berichtete, wie es zugegangen war und holte die Wahrzeichen hervor. Da ließ der König seine Töchter kommen und fragte sie, ob der Soldat die Wahrheit gesagt hätte, und da sie sahen, dass sie verraten waren und leugnen nichts half, so mussten sie alles eingestehen. Darauf fragte ihn der König, welche er zur Frau haben wollte. Er antwortete: „Ich bin nicht mehr jung, so gebt mir die älteste.“ Da ward noch am selbigen Tage die Hochzeit gehalten und ihm das Reich nach dem Tode des Königs versprochen. Aber die Prinzen wurden auf so viel Tage wieder verwünscht, wie sie Nächte mit den zwölfen getanzt hatten.

➤ Kategorie: Grimms Märchen
➤ entnommen aus: Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm.Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena 1912.
➤ angepasst an die zeitgemäße deutsche Sprache

Disclaimer

Liebe Leser*innen,

Grimms Märchen gehören zum kulturellen Erbe und deshalb möchten wir sie hier auch so stehen lassen, wie viele Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Dennoch: Für uns von familie.de gibt es nichts Wichtigeres, als eine vielfältige, offene und gleichberechtigte Gesellschaft. Was ihr hier in Grimms Märchen teilweise lest oder vorlest, passt mit unseren Wertvorstellungen oftmals nicht überein.

Die Märchen wurden im frühen 19. Jahrhundert zusammengetragen und waren auch damals nicht primär für Kinder gedacht. Sie sind voll von Brutalität und diskriminierenden Stereotypen. In den Geschichten finden wir nicht nur gruselige Märchengestalten wie Hexen oder Monster, sondern u.a. auch Gewalt an Kindern oder die Bevormundung von Frauen. Das ist nicht nur heute falsch, sondern war es auch damals schon. Zum Glück wachsen unsere Kinder in Zeiten auf, in denen ein Bewusstsein für diese Missstände herrscht.

Ihr kennt eure Kids am besten und daher ist es euch überlassen, ob ihr diese Erzählweise für euren Nachwuchs als angemessen anseht oder nicht; ob ihr Passagen auslasst oder abgeändert vorlest. In jedem Fall: Sprecht mit euren Kindern über das Gelesene und thematisiert das, was gegebenenfalls Angst macht oder Unrecht ist.