Über vier Millionen Kinder in Deutschland sind laut des Kinderschutzbund vom Armutsrisiko betroffen. Das wirkt sich in allen Lebensbereichen aus. Einer davon, die Bildung, könnte den Teufelskreis der Benachteiligung durchbrechen. Eine Bestandsaufnahme
In der Kindertagesstätte St. Thekla im rheinischen Herzogenrath gibt es gesundes Mittagessen aus eigener Herstellung. Nur zwanzig Euro müssen die Eltern pro Monat dafür zahlen. Kaum der Rede wert, sollte man meinen, aber Laras Mama kann den Betrag in diesem Monat wieder einmal nicht aufbringen. Trotz Minijob und finanzieller Unterstützung nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB-II) hat die alleinerziehende Mutter von drei Kindern große Mühe, über die Runden zu kommen.

Die Familie der Fünfjährigen gehört zu einer der Bevölkerungsgruppen in Deutschland, die am häufigsten von einem Armutsrisiko betroffen sind. Knapp unter 40 Prozent der Ein-Eltern-Familien in Deutschland waren 2015 auf finanzielle Unterstützung nach dem SGB-II, auch als Hartz IV bekannt, angewiesen. Verwundern kann das nur auf den ersten Blick, denn der überwiegende Teil der Alleinerziehenden ist zwar berufstätig – 89 Prozent davon sind Mütter – aber meist nur in Teilzeit.
Die Hälfte aller Alleinerziehenden bekommt zudem von den Vätern ihrer Kinder keinen Unterhalt. Auch wenn der Staat mit einem Vorschuss hilft: „Der ausbleibende Unterhalt für Kinder ist eine zentrale Ursache dafür, dass viele Ein-Eltern-Familien nicht über die Armutsgrenze kommen“, heißt es in der Veröffentlichung zu einer Bertelsmann-Studie über Kinderarmut. Immerhin: Ab dem 1. Juli 2017 wurde die Beschränkung auf sechs Jahre Unterhaltsvorschuss aufgehoben und er wird bis zum 18. Lebensjahr des Kindes gewährt.
Kinderarmut ist mehr als Hunger
Was aber bedeutet Armut in einem reichen Land wie Deutschland genau? Schließlich hat bei uns jede Familie ein Dach über dem Kopf und kein Kind muss hungern. In einem Vorentwurf des aktuellen Armutsund Reichtumsberichts der Bundesregierung heißt es: „Armut ist ein gesellschaftliches Phänomen mit vielen Facetten. Sie ist im Wesentlichen ein Mangel an Mitteln und Möglichkeiten, das Leben zu gestalten.“ Das „soziokulturelle Existenzminimum“, so die Experten, soll Menschen also die Teilhabe an den in ihrer Gesellschaft üblichen Aktivitäten ermöglichen.
Aber: „Das soziokulturelle Existenzminimum ist ein relatives Minimum“, sagt der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler Prof. Richard Hauser. „Es ist an den durchschnittlichen Lebensverhältnissen in einer Gesellschaft orientiert.“ Um materielle Not beschreibbar zu machen, hat man sich auf EU- Ebene verständigt, von einem Armutsrisiko dann zu sprechen, wenn das verfügbare Einkommen einer Person unter 60 Prozent des landesüblichen Durchschnitts liegt. Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung beziehen in eine Untersuchung zum Thema Kinderarmut zusätzlich alle Familien ein, die Grundsicherung nach Hartz IV erhalten.
Viele Schulen bemühen sich redlich, den Bildungsnachteil Auszugleichen
Einige davon leben im Einzugsbereich der Kita St. Thekla. „Wir gelten als sozialer Brennpunkt“, sagt die Leiterin Ursula Mingers über ihren Stadtteil. Auch, weil dort mehr Zuwandererkinder wohnen als anderswo im Ort.
Osan zum Beispiel kommt aus einer türkischstämmigen Familie. Seine Mutter arbeitet stundenweise für eine Reinigungsfirma, der Vater fährt Taxi. Das gemeinsame Einkommen ist dennoch so gering, dass sie als „Aufstocker“ auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind. Weil der Vater zwar in Deutschland geboren, die Mutter aber aus der Türkei zugezogen ist, wird zu Hause nur Türkisch gesprochen. „Kinder wie Osan können kaum Deutsch, wenn sie in die Kita kommen, und Türkisch oft nur auf umgangssprachlichem Niveau“, erklärt Ursula Mingers. Wenn Osan im Sommer in die Grundschule wechselt, wird ihm Deutsch immer noch schwerfallen.
Dort, an der Dietrich-Bonhoefer-Schule, bemüht man sich nach Kräften, den Bildungsnachteil von Kindern wie Osan auszugleichen. Die Schule verfügt über ein offenes Nachmittagsangebot und ist zusätzlich zum Lehrpersonal mit zwei Sonderpädagoginnen, zwei Sozialpädagogen, einer Schulsozialarbeiterin und vier Erzieherinnen ausgestattet. Trotz individueller Förderung, offenen Unterrichtsformen und vieler anderer Maßnahmen gelingt es nicht, jedes Kind zu dem Schulerfolg zu führen, für den das Potenzial vorhanden wäre. So erreichen denn im Quartier weniger Kinder einen höheren Bildungsabschluss als in anderen Stadtteilen, findet sich manches Kind als Erwachsener ebenfalls im Hartz-IV-Bezug wieder. Es gibt Familien, in denen wird die Armut von Generation zu Generation vererbt, hat Ursula Mingers beobachtet. Und das nicht nur unter Zuwanderern.
„Arme Eltern sind oft überfordert“, erklärt ihre Stellvertreterin Sigrid Ortmanns-Schmitz. Der tägliche Kampf mit dem Mangel, Behördengänge, das Ausfüllen von Antragsformularen erzeugen Stress und fressen Energie. Kommt eine länger andauernde Arbeitslosigkeit hinzu, geht oftmals die Tagesstruktur verloren, Antriebslosigkeit und Minderwertigkeitsgefühle stellen sich ein. In einer solchen Situation verlieren manche Eltern ihre Kinder aus dem Blick, „parken“ sie stundenlang vor dem Fernseher und können sich auf ihre Bedürfnisse nicht immer so einstellen wie es nötig wäre, sagt Sigrid Ortmanns-Schmitz.
Wohnverhältnisse entscheiden über den Bildungserfolg von Kindern
Auch wenn es nicht immer so weit kommen muss: Für Kinder hat ein Armutsrisiko gravierende Folgen. Familien mit geringem Einkommen haben seltener ein Auto oder einen Internetanschluss, wie aus der bereits erwähnten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hervorgeht. Unerwartete Ausgaben stellen sie vor große Probleme, sie gehen kaum ins Restaurant, Kino, Theater oder in ein Konzert und eine einwöchige Urlaubsreise pro Jahr ist so gut wie ausgeschlossen.
Wenn es aber am Geld für Ausflüge, kulturelle Veranstaltungen, Sport oder Musikunterricht mangelt, sind Kinder in ihrem Erfahrungshorizont gegenüber denen eingeschränkt, deren Familien solche Dinge mühelos finanzieren können. Hinzu kommt, dass das Fehlen außerschulischer Lernmöglichkeiten ihr Bildungsniveau erheblich einschränken kann. Auch die Wohnsituation kann einen negativen Einfluss auf den Schulerfolg haben. „Der verfügbare Wohnraum ist bei ärmeren Familien deutlich kleiner, viele Kinder haben keinen ruhigen Arbeitsplatz“, weiß die Familienforscherin Sabine Andresen von der Uni Frankfurt am Main.
Nach einem Befund des Robert Koch-Instituts treten auch psychische Probleme bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozialen Status deutlich häufiger auf als bei Familien mit hohem Status. Nur die Hälfte der armen Kinder bekommt ein regelmäßiges Frühstück, fast ein Drittel kann nicht schwimmen und zwanzig Prozent sind übergewichtig (gegenüber zehn Prozent bei den bessergestellten Familien). „Nach Status der Eltern ausgewertete Schuleingangsuntersuchungen zeigen zudem, dass Kinder mit niedrigem sozialen Status häufiger Defizite in der Sprachentwicklung aufweisen“, berichtet Georg Cremer von Caritas Deutschland. Auch dies ein Hindernis auf dem Weg zu besserer Bildung und damit steigender Aussicht, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Die Eltern dieser Kinder fühlen sich häufig als Versager am Rande der Gesellschaft, ist Sigrid Ortmanns-Schmitz von der Kita St. Thekla sicher. Auch deren Kinder erleben die Erfahrung sozialer Ausgrenzung als beschämend. Bei Schultasche, Klamotten, Klassenfahrten nicht ohne Weiteres mithalten können, sich nicht so gut ausdrücken und nicht so viel von der Welt mitbekommen wie andere – das schmerzt. „Die Zufriedenheit mit dem Leben ist bei Kindern in Armut geringer als beim Durchschnitt“, konstatiert denn auch die Familienforscherin Sabine Andresen. Und sie trauen sich in der Schule weniger zu. Manche Kinder reagieren auf die ständige Unsicherheit und Überforderung mit Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression oder extremer Schüchternheit, so die Forscherin.
Eine Gemeinschaftsaufgabe für die Gemeinden, die Länder und den Bund
Dreh- und Angelpunkt zur Verbesserung der Lage ist – darin sind sich nahezu alle Experten einig – einbesserer Zugang zu mehr Bildung. Aber auch ein optimales Schulsystem kann nicht alle Nachteile kompensieren, die Kinder aus bedürftigen Familien mitbringen. Im 48.000-Einwohner-Städtchen Herzogenrath hat man erkannt, dass außerhalb der Schule zusätzliche Unterstützung nötig ist. Deshalb schloss man sich dem Programm „Kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut“ an, das vom Landesjugendamt Nordrhein-Westfalen gefördert wird.
Nachdem zunächst die Expertise von Schulen, Kindergärten, Jugendzentren, Kirchen, Sportvereinen und anderen Einrichtungen in den verschiedenen sozialen Brennpunkten eingeholt wurde, geht es nun darum, „konkrete Projekte zu entwickeln, die die negativen Folgen der Kinderarmut in Herzogenrath reduzieren“, sagt Norbert Latz, Mitarbeiter des Jugendamtes und Koordinator der Initiative. „Die Projekte sollen Kinder und Eltern gleichermaßen stärken.“ Niedrigschwellige Angebote in den Bereichen Sport, Freizeit und Bildung sind geplant. Erste Erfolge verzeichnete bereits eine „Woche der Bewegung“, in der viele ortsansässige Sportvereine Kinder und Jugendliche für ihre Angebote interessierten.
Jenseits lokaler Initiativen ist aber auch die Landes- und Bundespolitik gefordert, einkommensschwache Familien mit Kindern zu unterstützen sowie für kostenfreie Betreuung und Bildungsangebote zu sorgen.
Nicht jedes Kind, das in prekären Verhältnissen aufwächst, leidet in gleicher Weise, ist sich Sabine Andresen sicher. Und: „Schon eine einzelne Person kann in der Biografie eines Kindes entscheidend sein. Der Mathelehrer, der sagt ,Ich glaube an dich, du schaffst das!‘ Oder Paten, wie es sie in vielen sozialen Projekten gibt.“
(von Ingrid Leifgen / erschienen in der familie&co 03/2017)
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