Das Therapeutische Reiten für Kinder: Durch eine Reittherapie können psychische und physische Probleme behandelt werden.
Reittherapie: Mittel zur Behandlung psychosozialer Probleme bei Kindern
Lisa steht in der Box einer braunen Hannoveranerstute und streichelt ihr liebevoll den Hals. Das Tier wirkt neben der Achtjährigen riesengroß, blinzelt mit seinen langen Wimpern und schnaubt sanft durch die Nüstern. Das Mädchen stellt sich auf die Zehenspitzen und flüstert ihm etwas ins Ohr. Auf einmal sind Schritte zu hören und eine groß gewachsene Frau erscheint in der Boxentür. Es ist Lisas Reittherapeutin. „Moin, Lisa! Du bist ja schon da! Möchtest du Grace wieder striegeln?“ Die Kleine strahlt und macht sich mit großem Eifer an die Arbeit. Gleich bekommt sie ihre wöchentliche Therapiestunde. Die wohltuende Wirkung des Reitens für Körper und Seele ist schon seit dem Altertum bekannt. Aber erst seit rund 50 Jahren nutzen Therapeuten diesen Effekt: Die Hippotherapie lindert und heilt physische Erkrankungen und das Heilpädagogische Reiten hilft bei psychosozialen Störungen. Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten kann nicht nur verhaltensauffälligen, lernbehinderten oder entwicklungsverzögerten Menschen helfen, sondern auch psychisch Kranken oder geistig Behinderten. Diese Therapieform hat auch schon vielen Kindern geholfen - vielleicht, weil die sich von den Tieren besonders angezogen fühlen.
Finanzierungsmöglichkeiten einer Reittherapie
In der Schweiz wird die Hippotherapie von der Krankenkasse bezahlt. In Deutschland sieht es leider anders aus. Das Bundesministerium für Gesundheit sieht den therapeutischen Nutzen des Reitens als nicht erwiesen an. Die Therapie muss von den Eltern bezahlt werden. Das gilt auch für Österreich. Das Heilpädagogische Reiten für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten wird in keinem der drei Länder von einer Krankenkasse finanziert. Wenn man sich für sein Kind eine Hippotherapie oder Heilpädagogisches Reiten wünscht und es sich nicht leisten kann, gibt es noch eine Chance: Einige Stiftungen ermöglichen Kindern diese besonderen Reitstunden. Informationen dazu erhalten Sie beim Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten. Neben der Hippotherapie und dem Heilpädagogischen Reiten wird auch der Behindertensport zum Therapeutischen Reiten gezählt. „Bei uns reiten zum Beispiel Blinde, Menschen, denen ein Bein amputiert wurde, aber auch Querschnittsgelähmte,“ erzählt Jenny Renner. „Wer sich normalerweise nur im Rollstuhl bewegen kann, lebt auf, wenn er auf einem Pferd sitzt. Vielleicht liegt es daran, dass man hier gar nicht als behindert wahrgenommen wird. Beim Reiten gibt es keine Vorurteile und kein falsches Mitleid.“, meint Jenny Renner. „Alle sind gleich.“
Reittherapie: Wer, wie, wo
Wenn Sie Interesse an einer Reittherapie oder Reiten als Behindertensport haben, wenden Sie sich ans Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten. Dort sagt man Ihnen auch, wer eine entsprechende Ausbildung vorweisen kann: Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten
Tel.: 02581/9279191
www.dkthr.de
Was therapeutisches Reiten bewirken kann
Was sie in den vergangenen 14 Jahren erlebt hat, findet Jenny Renner teilweise selber unglaublich. „Oft kommen Eltern mit ihrem Kind zu uns, die schon vieles ausprobiert haben. Mit Hilfe der Pferde machen einige Kinder dann Fortschritte, mit denen niemand mehr gerechnet hat,“ erzählt Jenny Renner. Das Therapiezentrum liegt am Rande des Dorfes Ihlowerfehn im westlichen Teil der ostfriesischen Halbinsel und strahlt eine entspannte Atmosphäre aus. Die flache Moorlandschaft um den Hof ermöglicht einen weiten Blick. Hier können Kinder und Erwachsene mit und ohne Handycap abschalten, die Sorgen zur Seite schieben, Kraft tanken und eintauchen in eine andere, unbelastete Welt. Das gilt auch für Jan. Er ist zehn Jahre alt und beidseitig spastisch gelähmt. Er kann Beine und Becken nicht bewegen und seinem Pferd daher kaum reiterliche Hilfen geben. Dafür hat er eine souveräne Ausstrahlung. Die Art, wie er seinen Oberkörper beim Reiten aufrichtet, und die Entschlossenheit in seiner Stimme beeindrucken sogar das Pferd, das auf seine Kommandos prompt reagiert. Jan hat seine Form der Kommunikation mit ihm gefunden und kann selbstständig reiten. Seit einem halben Jahr kommt er inzwischen zur Reittherapie. Sie wird jungen Menschen mit körperlichen Problemen oft zusätzlich zur Physiotherapie empfohlen - besonders dann, wenn herkömmliche Methoden nichts mehr bewirken können.
Warum die Reiththerapie hilft
Vom Pferderücken aus übertragen sich Impulse auf den Reiter, die die Haltungs-, Gleichgewichts- und Stützreaktionen trainieren. Der Reiter lernt, seine Muskeln gezielt anzuspannen und wieder zu entspannen. Die Arbeit mit den meist speziell ausgebildeten Pferden fördert unter anderem Koordination, Balance und Motorik. Viele Patienten erhalten dadurch ein völlig neues Körpergefühl. Das gilt auch für Jan. „Es hat sich auf jeden Fall gelohnt,“ sagt seine Mutter, die am Nachmittag auf einer Bank in der Sonne sitzt und ihren Sohn bei seiner Reitstunde beobachtet. Neben ihr sitzt Jasmins Mutter. Jasmin ist neun Jahre alt und reitet mit stolzer Miene auf dem Wallach Antares hinter Jan her. „Die Hippotherapie ist Teil der Reha-Maßnahmen,“ erklärt ihre Mutter. „Nach einem Autounfall spielte ihr Nervensystem verrückt, sie hatte Lähmungserscheinungen im linken Bein und muss nun wieder laufen lernen. Aber das hat sie schon fast wieder im Griff.“ Keine Wunder: Im Schritt gehende Pferde haben einen Gangrhythmus, der dem menschlichen nahezu identisch ist. „Genau das ist ein wichtiger Trick bei der Reittherapie,“ erklärt Jenny Renner, „Patienten mit Bewegungsstörungen können ihre verloren gegangene Gehfähigkeit mit Hilfe der Impulse der Pferde wieder zurück gewinnen oder auch ganz neu erlernen.“
Therapeutisches Reiten: Erfahrungsbericht
Auch die kleine Lisa hat dank Grace, der sie gerade gewissenhaft die dunkle Mähne kämmt, viel von ihrer alten Lebensfreude zurück gewonnen. Ihre Eltern hatten sich getrennt, Lisas Leistungen in der Schule sich seither verschlechtert. Die Lehrerin sprach von Konzentrationsproblemen. Lisa wurde immer verschlossener und hatte kaum noch Lust, sich mit ihren Freundinnen zu treffen. Ihre Mutter befürchtete, dass Lisa sich die Schuld an der Trennung gibt. Eine Kinderpsychologin fand kaum Zugang zu dem Mädchen. Da entschied Lisas Mutter, es mit dem Therapeutischen Reiten zu versuchen. „Schon nach ein paar Stunden war Lisa ganz verändert,“ erinnert sich Lisas Reittherapeutin Jenny Renner. „Lisa und Grace verstanden sich von Anfang an. Lisa war von der Stute fasziniert, von ihrer Größe und ihrer Kraft. Und Grace ging neugierig auf sie zu und gab ihr das Gefühl, gemocht zu werden so wie sie ist - auch mit ihrer Traurigkeit.“ Bei den Reittherapiestunden und im Stall vergaß das Mädchen seine Sorgen und wirkte nicht mehr so in sich gekehrt. Da sie das Pferd bald selbstständig reiten konnte, wurde ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Lisas Mutter berichtete von besseren Schulnoten, davon, dass ihre Tochter fröhlicher sei und sich wieder für andere Kinder interessiere. „Auch auf dem Reiterhof hat Lisa Freundschaften geschlossen,“ erzählt Jenny Renner. Die 45-Jährige ist staatlich anerkannte Physiotherapeutin und arbeitete acht Jahre lang in diesem Beruf, bis sie 1993 ihr eigenes Hippotherapiezentrum gründete. Nach zahlreichen Weiterbildungen gehört sie zu den wenigen Therapeutinnen, die sowohl Heilpädagogisches Reiten als auch Hippotherapie anbieten können. Das macht Sinn, schließlich gibt es viele Patienten, bei denen körperliche und seelische Probleme zusammenhängen.
Therapeutisches Reiten: Bedeutung des Therapeuten
Der Reittherapeut muss pädagogisch und psychologisch geschult sein. Patient und Tier sollte er behutsam aufeinander zugehen lassen. Wenn dieser erste Schritt gemacht ist, wird das Pferd meist longiert: Der Reittherapeut steht in der Mitte eines Kreises mit etwa 15 Metern Durchmesser und bewegt das Pferd an der Longe, einer Leine, um sich herum. Oft nehmen mehrere Kinder gleichzeitig an einer Voltigierstunde teil. Der Reittherapeut ermutigt sie zu Bewegungen und Übungen auf dem Pferderücken. Es sind vor allem die Erfolgserlebnisse und die schönen gemeinsamen Erfahrungen, die den Kindern das Selbstbewusstsein und die Kraft geben, die sie so dringend brauchen. Das Reiten zu erlernen, ist nicht das Ziel, aber ein schöner Nebeneffekt, der den Kindern zusätzlichen Auftrieb gibt. Der Kontakt zu „ihrem“ Pferd ist bei der Reittherapie wichtig. Es tut gut, jemandem vertrauen zu können. Die Tiere helfen den Kindern, mit Ängsten und Frustrationen umzugehen. Und das stärkt ihr soziales Verhalten.
Bildquelle: Getty Images/Mikhail Spaskov