Dein Kind schreit, und plötzlich spürst du nicht nur Stress, sondern eine tiefe emotionale Reaktion in dir aufsteigen, die viel intensiver ist, als die Situation eigentlich rechtfertigt. Was da passiert, ist kein Zufall: Alte Wunden aus deiner eigenen Kindheit werden aktiviert. Unser Gehirn verbindet aktuelle Situationen blitzschnell mit vergangenen Erfahrungen – und manchmal reagieren wir dann nicht auf unser Kind, sondern auf unser verletztes inneres Kind.
Wenn dein Kind schreit, weint oder wütend ist, kann das Gefühle in dir auslösen, die dich selbst überraschen. Vielleicht merkst du, wie dein Puls rast, wie du die Kontrolle verlierst oder wie du Dinge sagst, die du später bereust. Das ist völlig normal und passiert den meisten Eltern. Die gute Nachricht: Du kannst lernen, diese Trigger zu erkennen und neue Wege zu finden, um sowohl dein inneres Kind als auch dein echtes Kind zu beruhigen.
Ein emotionaler Rucksack, den wir alle tragen
Unsere eigene Kindheit prägt, wie wir als Eltern reagieren. Wenn wir als Kinder gelernt haben, dass starke Emotionen gefährlich sind oder ignoriert werden, können wir als Erwachsene Schwierigkeiten haben, mit den intensiven Gefühlen unserer Kinder umzugehen. Aber mit den richtigen Werkzeugen können wir diesen Kreislauf durchbrechen und eine neue Art der Elternschaft entwickeln – eine, die sowohl uns als auch unseren Kindern guttut.
#1 Erkenne den emotionalen Tsunami in dir
Wenn dein Kind einen Wutanfall hat und du merkst, wie in dir selbst eine Welle aus Hilflosigkeit, Wut oder Panik aufsteigt, ist das der Moment, innezuhalten. Diese überwältigenden Gefühle sind oft Hinweise darauf, dass etwas aus deiner eigenen Vergangenheit getriggert wurde.
Vielleicht hast du als Kind gelernt, dass laute Stimmen Gefahr bedeuten. Oder dass Weinen zu Ablehnung führt. Diese frühen Erfahrungen haben neuronale Verbindungen geschaffen, die jetzt, Jahre später, immer noch aktiv sind. Wenn dein Kind schreit, reagiert dein Gehirn daher, als wärst du wieder dieses kleine, hilflose Kind von damals.
Der erste Schritt zur Veränderung ist, diese Verbindung zu erkennen. Frage dich in solchen Momenten: "Was genau löst diese starke Reaktion in mir aus? Woran erinnert mich das?" Allein dieses Bewusstsein kann dir helfen, einen Schritt zurückzutreten und zu erkennen: Das ist nicht nur die aktuelle Situation – das ist auch meine Geschichte, die hier mitspielt.
#2 Atme dich in die Gegenwart zurück
Wenn dein Kind mitten im Supermarkt einen Wutanfall bekommt und du spürst, wie Panik in dir aufsteigt, scheint die Zeit stillzustehen. Alle Blicke scheinen auf dich gerichtet, und in deinem Kopf läuft vielleicht der Gedanke: "Ich bin eine schreckliche Mutter/ein schrecklicher Vater." In diesem Moment aktiviert sich dein Stresssystem – und rational denken wird fast unmöglich.
Was jetzt hilft, ist simpel und doch so wirkungsvoll: bewusstes Atmen. Drei tiefe Atemzüge können den Unterschied machen zwischen einer Reaktion, die du später bereust, und einer Antwort, die sowohl dir als auch deinem Kind hilft.
Mit jedem Atemzug holst du dich zurück in die Gegenwart und erinnerst dich: Du bist nicht mehr das hilflose Kind von damals. Du bist ein Erwachsener mit Ressourcen und Möglichkeiten. Diese kleine Pause gibt dir die Chance, bewusst zu reagieren, statt automatisch in alte Muster zu verfallen.
#3 Sprich mit deinem inneren Kind
Stell dir vor: Dein Kind hat zum dritten Mal in dieser Woche seine Hausaufgaben "vergessen", und du spürst, wie Wut in dir hochkocht. "Warum hörst du mir nie zu?", willst du schreien. Doch plötzlich erkennst du: Diese intensive Reaktion kommt nicht nur von der aktuellen Situation – sie hat mit deiner eigenen Geschichte zu tun.
Vielleicht hast du als Kind oft gehört, dass du nicht gut genug bist, dass du dich mehr anstrengen solltest. Und jetzt, wenn dein Kind etwas "falsch" macht, werden diese alten Wunden wieder aktiviert.
In diesem Moment kannst du innehalten und mit deinem inneren Kind sprechen. Stelle dir vor, wie du dich selbst als kleines Kind in den Arm nimmst und sagst: "Ich sehe dich. Ich verstehe, dass du Angst hast, nicht zu genügen. Aber du bist wertvoll, genau wie du bist." Diese innere Konversation mag seltsam klingen, aber sie ist unglaublich heilsam. Indem du dein inneres Kind anerkennst und beruhigst, schaffst du Raum, um auf dein echtes Kind anders zu reagieren.
#4 Schaffe neue Familiengeschichten
Wir alle tragen die Geschichten unserer Kindheit mit uns – die guten wie die schwierigen. Aber als Eltern haben wir die einzigartige Chance, neue Geschichten zu schreiben. Geschichten, in denen starke Gefühle willkommen sind. In denen Fehler machen zum Lernen dazugehört. In denen Liebe nicht an Bedingungen geknüpft ist.
Wenn du merkst, dass du in alte Muster verfällst und Sätze sagst, die du selbst als Kind gehört hast ("Hör auf zu weinen!" oder "Warum kannst du nicht einfach hören?"), dann ist das der perfekte Moment für eine Kurskorrektur.
Halte inne, atme tief durch und frage dich: "Welche Geschichte möchte ich meinem Kind mit auf den Weg geben?" Vielleicht ist es die Geschichte, dass Gefühle – auch die schwierigen – wichtig sind und gehört werden dürfen. Dass Verbindung wichtiger ist als Perfektion. Dass wir als Familie zusammenhalten, auch wenn es mal stürmisch wird. Mit jeder bewussten Entscheidung, anders zu reagieren als deine Eltern, durchbrichst du alte Muster und schaffst neue, heilsamere Wege für dich und deine Kinder.
Dein Weg zu mehr Gelassenheit beginnt bei dir selbst
Elternschaft ist wie eine Reise, auf der wir nicht nur unsere Kinder, sondern auch uns selbst besser kennenlernen. Die intensiven Gefühle, die unsere Kinder in uns auslösen, sind oft Wegweiser zu unseren eigenen ungeheilten Wunden. Wenn wir den Mut haben, diesen Wegweisern zu folgen und uns mit unserem inneren Kind zu versöhnen, können wir nicht nur bessere Eltern werden – wir können auch selbst heilen.
Denk daran: Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Es geht darum, authentisch zu sein, zu wachsen und immer wieder neu anzufangen. Jedes Mal, wenn du innehältst, atmest und eine bewusste Entscheidung triffst, anders zu reagieren als aus deinem alten Schmerz heraus, durchbrichst du einen Kreislauf und schaffst etwas Neues – für dich und für deine Kinder.







