Viele Eltern glauben, sie müssen sich in jeder Erziehungsfrage einig sein – beim Essen, beim Schlaf, bei Medien – sonst führe das zu Unsicherheit beim Kind. Doch diese Vorstellung aus alten Zeiten übt enormen Druck auf alle Familienmitglieder aus. Was modernere Forschung über unterschiedliche Ansichten in Erziehungsthemen herausgefunden hat.
Wenn Einigkeit zum Zwang wird
Stell dir vor: Du möchtest für dein Kind konsequent sein, dein Partner vertritt einen eher permissiven Erziehungsstil. Der eine sagt „Nein“, der andere „Ja“. Diese Unterschiedlichkeit hat großes Konfliktpotenzial. Schließlich wissen wir als gute Eltern ja, dass wir gegenüber dem Kind immer an einem Strang ziehen sollten, um ihm klare Regeln und Grenzen zu vermitteln. Oder?
Entwarnung: Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass wir es entspannt sehen dürfen, wenn wir uns nicht immer einig sind. Dass der perfekte Konsens unrealistisch ist und dazu als belastend wahrgenommen wird, zeigt eine Metaanalyse aus "Parenting – Science and Practice".
Darin zeigt sich: Nicht permanente Übereinstimmung zählt, sondern wie Eltern konstruktiv miteinander umgehen. Gegenseitige Unterstützung, respektvolle Kommunikation und das Vermeiden von Unterwanderung vor dem Kind gelten als zentrale Merkmale positiver Eltern-Kooperation.
Wo wir uns einig sein müssen – und wo Vielfalt super ist
Gleichzeitig haben Wissenschaftler*innen herausgefunden, dass es durchaus Bereiche gibt, in denen Eltern klare gemeinsame Linien brauchen – etwa bei den Themen Sicherheit, Gewaltfreiheit und in grundlegenden Wertefragen. In weniger zentralen Alltagsthemen können unterschiedliche Haltungen dagegen sogar bereichernd sein.
Denn wenn ein Elternteil strukturierter ist, der andere spontaner, lernt das Kind verschiedene Herangehensweisen auf das Leben kennen und damit mehr Flexibilität, Kompromissfähigkeit und Empathie. Vielfalt im Elternhaus kann also auch die Vielfalt der Welt widerspiegeln.
Nicht nur wir Eltern sind manchmal nicht einer Meinung – auch unter Geschwisterkindern gibt es viele Themen, bei denen sie sich ganz schön in die Haare kriegen können. Warum Streiten unter Kids aber so wichtig für ihre Entwicklung ist, zeigt unser Video:
Das könnt ihr tun, damit Uneinigkeit nicht toxisch wird
Doch Achtung: Wenn die Unterschiede in ständigen Machtkämpfen, Vorwürfen oder dauerhaften Widersprüchen enden, dann leiden sowohl die Beziehung als auch das Kind darunter. Besonders schädlich ist es laut Forschung, wenn Kinder als Boten/Botinnen oder Spielball zwischen den Eltern verwendet werden.
So gelingt ein respektvoller Umgang mit Meinungsverschiedenheiten:
- Klare Grundwerte definieren. Sprecht darüber, was euch absolut wichtig ist – z. B. körperliche Unversehrtheit, Respekt oder Verantwortungsbewusstsein – und bildet dafür einen gemeinsamen Konsens.
- Regeln für kleine Konflikte festlegen. Für Alltagsthemen könnt ihr Zuständigkeiten verteilen oder nach spontanen Regeln entscheiden, etwa "Wer zuerst reagiert, darf in diesem Moment die Richtung vorgeben" – aber mit Offenheit für Austausch später.
Über Unterschiede reden – ohne den Partner zu überrollen
Wenn du eine Entscheidung anders siehst als dein Partner/deine Partnerin, rede darüber – aber nicht vor dem Kind. Höre dir dabei seine/ihre Gründe an und versuche, erstmal Verständnis zu zeigen, statt alles sofort abzulehnen. Sucht Kompromisse, hinter denen beide stehen können.
Wenn ihr zu keiner Einigung kommt, ist es in Ordnung, wenn vorübergehend jeder eine eigene Linie vertritt – aber ohne den anderen zu diskreditieren oder seine/ihre Autorität zu unterlaufen.
Der Erziehungsberater Jan-Uwe Rogge unterstützt Eltern mit seinem Buch "Gelassen erziehen, stark begleiten" dabei, Erziehung aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Schritt für Schritt führt das Buch durch zentrale Themen wie Geduld, Gelassenheit und Selbstakzeptanz in der Elternschaft und unterstützt uns dabei, eigene Erwartungen zu hinterfragen. Es geht darum, uns und unser Kind so anzunehmen, wie wir sind, und gemeinsam zu wachsen – frei von unrealistischen Idealvorstellungen.
Fazit: Respekt als Brücke zwischen Unterschiedlichkeiten
Der Mythos, Eltern müssten durchgängig an einem Strang ziehen, ist passé. Wirklich hilfreich für das Kind ist, wenn es sieht, wie Eltern mit ihren Differenzen umgehen – mit Respekt, Ehrlichkeit, Dialog. So gestalten Eltern eine Umgebung, in der Kinder erleben: Nicht alles ist festgelegt, aber vieles gemeinsam verhandelbar.
Denn die moderne Forschung zeigt: Es geht nicht um absolute Einheit, sondern um respektvollen Umgang mit Differenz und vor allem um die Frage: Wie wir Uneinigkeit leben. Denn nicht Einigkeit in jedem Detail zählt – sondern Qualität in der Verbindung.


