Was passiert mit uns, wenn unsere Eltern uns nur akzeptiert haben, wenn wir perfekt waren? Was bedeutet es, wenn wir in der Kindheit immer an allem Schuld trugen? Und wie sehr verletzt es uns, wenn unsere Eltern uns schlicht nicht gesehen haben? Solche toxischen Kindheitserfahrungen prägen uns oft für unser ganzes Leben. Sie graben sich in die Seele, formen unser Verhalten, unsere Beziehungen und unser Selbstbild – bis wir uns davon lösen.
Psychologe Dr. Mark Travers erklärt auf "Psychology Today", wie Kinder narzisstischer Eltern typischerweise eine von drei Rollen übertragen bekommen – und warum sie diese Rollen oft auch als Erwachsene kaum ablegen können. Als Kind sind diese Muster nichts weniger als Überlebensstrategien. Doch zu erkennen, welche Rolle du eingenommen hast, ist der erste Schritt, um mehr Freiheit und ein eigenes Ich zu entwickeln.
#1 Das Goldkind: Geliebt – aber nur unter diesen Bedingungen
Kinder, die in die Goldkind-Rolle gedrängt werden, werden besonders gehätschelt und idealisiert. Aber nur, solange sie den Erwartungen der Eltern entsprechen. Lob gibt es nur, wenn Leistung, Erfolg oder bestimmtes Verhalten stimmen – der Rest wird übersehen oder abgewertet.
Diese Rolle vermittelt: Ich bin nur so viel wert wie das, was ich leiste oder darstelle. Selbstbewusstsein wird von außen gespeist, Perfektionismus wächst und der Druck bleibt im Körper. Wer Goldkind war, kämpft im Erwachsenenleben oft damit, authentisch zu sein – weil „echt sein“ früher nicht genug war. Auch hadern diese Menschen oft mit übertriebenen Perfektionsansprüchen oder mit psychosomatischen Erkrankungen wie Magersucht.
#2 Der Sündenbock: Projektionsfläche für alles Schlechte
In dieser Rolle bist du das Kind, an dem Frust, Kritik und Enttäuschung der narzisstischen Eltern abgeladen werden – auch wenn du überhaupt nicht Schuld bist. Du wirst ausgegrenzt, bestraft oder gering geachtet.
Diese Rolle kann im Erwachsenenalter in einer unerwarteten Stärke resultieren: Frühere Sündenböcke sind später oft sehr sensibel gegenüber Ungerechtigkeiten und gleichzeitig resistent gegenüber Manipulationsversuchen. Denn die Sündenbockrolle kann als eine Art innere Alarmanlage ins Leben übergehen nach dem Motto "Ich war oft Ziel, ich sehe hier Ungerechtigkeit, ich reagiere." Doch diese Wachsamkeit kann isolieren – und uns auslaugen.
#3 Das unsichtbare Kind: übersehen und vergessen
Unsichtbar zu sein im Elternhaus bedeutet keine Anerkennung, kein Lob, keine Aufmerksamkeit – nicht mal negative (wie beim Sündenbock). Narzisstische Eltern ignorieren das unsichtbare Kind oft nicht bewusst, sondern finden in ihrer Persönlichkeitsstörung schlicht keinen Raum für dieses kleine Wesen. Seine Gefühle werden ignoriert, Bedürfnisse gelten als nebensächlich und werden im Extremfall komplett vernachlässigt.
Diese Rolle formt oft Menschen, die sich stark nach außen hin abschotten, sehr introvertiert wirken. Frühere unsichtbare Kinder versuchen, Konflikte mit aller Kraft zu vermeiden. Sie schenken ihren eigenen Bedürfnissen oft keine Beachtung, leiden nicht selten auch unter psychosomatischen Erkrankungen oder Depression. Nähe auszuhalten und Entscheidungen zu treffen, fällt ihnen schwer.
So kannst du dich heute von deiner Rolle befreien
Du bist mehr als das "Ergebnis" deiner narzisstischen Eltern. Diese Tipps können dir helfen, die alten Rollen abzulegen:
- Erkenne dein Muster: Welche dieser Rollen hast du angenommen?
- Sprich darüber: Therapie, Coaching oder Freund*innen, denen du vertraust, können helfen, das Erlebte zu sortieren.
- Gib dir die Liebe, die du vermisst hast: Kleine Rituale, Selbstfürsorge, Sätze wie „Ich bin gut, so wie ich bin“ verankern ein Selbstwertgefühl, das nicht von Leistung abhängt.
Bist du von Trauma betroffen, findest du bei der Telefonseelsorge unter 0800 1110111 Hilfe und du kannst beim IQWiG Beratungsangebote finden. Bei der Bundes-Psychotherapeuten-Kammer findest du eine Therapeutensuche.
Auch das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch und der Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V. (ado) sind wichtige Anlaufstellen. Bei einem psychischen Notfall ist es wichtig, dich an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112 zu wenden.
Dein Blick nach vorne
Diese Rollen deiner Kindheit hast du nicht bewusst gewählt. Sie waren Mittel, um in schwierigen Familien zu überleben. Doch du musst sie nicht behalten. Es ist möglich, sie zu erkennen, loszulassen und ein Leben aufzubauen, das nicht von Erwartungen diktiert wird, sondern von deinem wahren Ich. Es wird nicht über Nacht gehen – aber mit Mut und Unterstützung kannst du Frieden schließen.
Psychologin Stefanie Stahl stellt in ihrem Buch "Das Kind in dir muss Heimat finden" einen wirksamen Ansatz zur Arbeit mit kindlichen Kränkungen und Traumata vor. Es kann helfen, Konflikte aus der Vergangenheit zu lösen und glücklicher und befreiter durchs Leben zu gehen.





