Bücher sind ja nicht nur für bestimmte Generationen gemacht. Doch manche Romane geben einen Zeitgeist wieder, sind geprägt und von gesellschaftlichen, politischen oder zeitgeschichtlichen Ereignissen und in diese eingebettet. Welche Bücher der Jahre 1995 bis 2005 waren prägend für damalige Gen-Y-Jugendliche bzw. die junge Millennial-Generation und sprachen vielen aus der Seele oder stießen Debatten an? Im Rückblick sieht man meist einiges anders. Es ist nie zu spät, sich den Klassikern von damals aus heutiger Sicht zuzuwenden. Ein Plädoyer fürs erneute Lesen oder endlich Lesen!
1991
Bret Easton Ellis: "American Psycho"
Als der brutale Thriller über den schicken Serienkiller-Yuppie aus New York erschien, waren Millennials natürlich viel zu jung. Doch vor allem durch die Verfilmung mit Christian Bale als kaltblütiger, emotionsloser Frauenmörder erlebte "American Psycho" Ende der 90er/Anfang der 2000er nochmal einen Hype.
Patrick Bateman, ein erfolgreicher Investmentbanker in New York, führt ein Doppelleben als Serienmörder: Tagsüber handelt er an der Börse und vermehrt seinen Reichtum und des Nachts taucht er ein in eine Welt aus Drogen und Gewalt. Damit offenbart Bret Easton Ellis die seelenlose Welt des Börsen-Kapitalismus, der jegliche Menschlichkeit tötet und in der Liebe keinen Platz hat.
Die detailverliebte Darstellung von Konsumgütern und Marken wird genauso übertrieben wie die Gewalt – eine bittere Parabel auf Oberflächlichkeit und moralische Leere. Wir schauen tief hinein in die Abgründe der menschlichen Seele und erleben, wie Geld und Macht den Menschen verändert. Nichts für schwache Nerven, aber absolut lesenswert.
1995
Nick Hornby: "High Fidelity"
Der 35-jährige Rob Fleming durchlebt in "High Fidelity" Mitte der 90er Jahre (Gen X) eine Midlife- und Beziehungskrise, indem er seine „Top Five“ gescheiterter Beziehungen analysiert. Der melancholische Plattenladenbetreiber liebt nichts so sehr wie Musik und Popkultur, worum sich alles in dem Roman dreht.
Das Buch ist voller Popkulturreferenzen einer Generation, die ihre Identität über Musik, Filme und Listen konstruiert. Vor allem tauchen wir ein in unsere Jugendwelt und erleben eine noch überwiegend analoge Welt ohne Social Media, in der das Internet gerade erst begann, man noch CDs kaufte, Schallplatten sammelte und Musik-Kassetten aufnahm. Hornby zeigt, wie Privatleben und Popkultur untrennbar verwoben sind. Es heute nochmal zu lesen, lohnt sich für alle, die tief in den Spirit der 90er-Jugend eintauchen möchten ...
Auch hier hat die ikonische Verfilmung des Buches mit John Cusack und Jack Black zum Hype beigetragen:
1995
Bernhard Schlink: "Der Vorleser"
Wenn ihr den Roman "Der Vorleser" damals noch nicht gelesen habt, dann tut das unbedingt. Der einfühlsame Erzähler Bernhard Schlink wurde für seinen gesellschaftskritischen Liebesroman vielfach international geehrt. Er beschäftigt sich mit der deutschen Schuld und der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit anhand einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Seit damals wirrd er häufig auch als Schullektüre in der Oberstufe besprochen.
Er erzählt die Geschichte des Jugendlichen Michael Berg, der in den 1950er-Jahren in einer deutschen Kleinstadt eine Liebesaffäre mit der älteren Hanna Schmitz beginnt. Jahre später, als Jurastudent, trifft er sie vor Gericht wieder – angeklagt wegen ihrer Tätigkeit als KZ-Wärterin. Die Handlung verknüpft eine persönliche Coming-of-Age-Geschichte mit der moralischen und historischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Schlink stellt Fragen nach Schuld, Verantwortung und dem Verstehen von Dingen, die jenseits persönlicher Erfahrung liegen, und schuf damit einen international erfolgreichen Roman, der besonders bei der Millennial-Generation Diskussionen über Erinnerungskultur und moralische Grauzonen auslöste.
1998
Benjamin von Stuckrad-Barre: "Soloalbum"
Ein paar Jährchen nach "High Fidelity" bewegte der Debütroman von Benjamin von Stuckrad-Barre die deutsche Literatur- und Popkultur. In "Soloalbum" schildert der Anfang 20-jährige Erzähler in tagebuchartigen Episoden seine Arbeit als Musikjournalist und sein Leben in einer von Popmusik geprägten Großstadtrealität. Seine Freundin macht per SMS Schluss. Das wirft den jungen Mann völlig aus der Bahn - er versucht sich trinkend und joggend abzulenken und findet Verständnis bei ... OASIS.
Der Text ist durchsetzt von Songtexten, ironischer Melancholie und popkulturellen Referenzen. Viele Millennials, die im Übergang von CD zu MP3 und Musiksendern wie MTV sozialisiert wurden, fanden hier eine kongeniale literarische Stimme. Es ist ein Zeitdokument für die latente Überforderung zwischen Spaßgesellschaft und Selbstfindung. Auch hier gibt es eine Verfilmung, ein paar Jahre später, mit Matthias Schweighöfer und Nora Tschirner in den Hauptrollen.
1998
Paulo Coelho: "Veronika beschließt zu sterben"
Der große Erzähler Paulo Coelho berührte viele von uns damals mit seiner Geschichte über eine 24-jährige Frau, die scheinbar alles hat und dennoch todunglücklich ist. Als sie versucht, sich umzubringen, wird sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und erfährt, dass sie durch die Folgen der Überdosis nur noch wenige Tage am Leben sein wird. Im Angesichts des Todes bemerkt sie, wie sehr sie das Leben doch liebt und dass sie noch verrückte Träume hat, die sie verwirklichen möchte ...
Viele junge Leser*innen erkennen sich in Veronikas Seelenzuständen wieder. Der Roman "Veronika beschließt zu sterben" spricht als einer der ersten damals offen das Thema Depression bei jungen Menschen an. Auch mich hat er damals sehr berührt. Übrigens ebenfalls verfilmt, mit Sarah Michelle Gellar in der Hauptrolle als Veronika.
2001
Jonathan Franzen: "Die Korrekturen"
"Die Korrekturen" von Jonathan Franzen ist zwar kein Jugendroman über Millennials, aber faszinierte 2001 weltweit viele Leserschichten als Familien- und Gesellschaftsroman. Ich habe ihn wahnsinnig gern gelesen und viele Familienthemen im eigenen Leben wiedererkannt.
Im Zentrum stehen die Lamberts, eine Mittelklassefamilie aus dem amerikanischen Mittleren Westen. Der strenge, kranke Vater Alfred, die optimistische Mutter Enid und ihre drei erwachsenen Kinder – Banker Gary, der gescheiterte Akademiker Chip und die erfolgreiche, aber emotional verunsicherte Köchin Denise – ringen mit persönlichen Krisen, Beziehungskonflikten und den Erwartungen ihrer Eltern.
Vor dem Hintergrund der späten 1990er und frühen 2000er seziert Franzen Themen wie Generationsunterschiede, Konsumkultur, Selbstoptimierung und den Zerfall traditioneller Bindungen. Der Roman beschreibt eindringlich die Spannung zwischen Individualismus und familiären Verpflichtungen und ist gleichzeitig ein präzises Porträt des gesellschaftlichen Zeitgeists kurz vor dem 21. Jahrhundert.
2002
Jana Hensel: "Zonenkinder"
Für Jugendliche der DDR brach 1989 eine Welt zusammen. Autorin Jana Hensel (geboren 1974 in Leipzig) selbst war 15 als die Mauer fiel. Mit ihrem unterhaltsamen Roman "Zonenkinder" war sie die erste zu Beginn der Jahrtausendwende, die literarische Worte für eine junge Generation fand, deren Leben von einem gesellschaftlichen Umbruch geprägt war.
Sie beleuchtet in ihrem Buch die positiven und die Schattenseiten der Wendeteenager, deren jugendlicher Alltag sich von einem auf den anderen Tag veränderte. Ein Alltag zwischen Ost und West, zwischen Hoffen und Warten, eine Pubertät im Umbruch, wo man nicht nur sich selbst, sondern auch die gesamte Welt infrage stellt. Das Buch wurde nicht nur gelobt, sondern auch differenziert kritisiert. Es gehört auf jeden Fall zu den wichtigsten Büchern über die Jugend der Wendezeit.
"Jana Hensel hat der ersten gesamtdeutschen Generation schon jetzt ein kleines Denkmal gesetzt – mit sprachlicher Lakonie, Leichtigkeit und einer Transparenz, die leuchtet."
2003
Jeffrey Eugenides: "Middlesex"
"Middlesex" von Jeffrey Eugenides war damals lange Zeit mein Lieblingsbuch. Erschienen 2003 wurde der US-amerikanische Autor imt griechischen Wurzeln dafür mit dem renommierten Pulitzerpreis ausgezeichnet. Die berührende Geschichte des Hermaphroditen Cal ist verwoben mit einer modernen Migrationsgeschichte, wie viele Familien sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennen.
1922 fliehen die Geschwister Eleutherios und Desdemona Stephanides aus ihrem griechischen Bergdorf vor den Türken, über Smyrna nach Amerika, wo sie sich in Detroit niederlassen. Jahrzehnte später wächst ihre Enkelin Calliope auf – bis sich offenbart, dass sie genetisch ein Junge ist und fortan Cal heißt. Aus seiner Perspektive entfaltet sich die siebzig Jahre umfassende Geschichte einer Einwandererfamilie voller Geheimnisse, Liebe und Brüche: von Seidenraupen und Rumschmuggel bis zu den Verworrenheiten des Geschlechts. Jeffrey Eugenides verwebt Migrations- und Familienepos, Gesellschaftsroman und Abenteuer zu einem berührenden, kraftvollen Panorama des 20. Jahrhunderts.
2003
Khaled Hosseini: "Drachenläufer"
Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 (der islamistische Anschlag auf das World Trade Center in New York) veränderten die Welt und lenkten auch unseren europäischen Blick auf ein Land, dessen Zustand und Gesellschaft uns als Jugendlichen völlig fremd war. Plötzlich war Afghanistan und der Krieg, der sonst so weit weg war, allgegenwärtig in der westlichen Welt angekommen. Literarisch wurden diese Themen erst später behandelt.
Der afghanische Autor Khaled Hosseini hatte 2003 einen Welterfolg mit seinem Roman "Drachenläufer". Darin erinnert sich ein junger Mann aus Afghanistan an seine Kindheit im Kabul der 70er Jahre; an seine Freundschaft mit dem Dienersohn Hassan und einen Verrat, der sein Leben prägt. Der Roman kombiniert persönliche Schuld, Freundschaft und historische Umbrüche. Man taucht nicht nur in die Geschichte dieses uns so fremden Landes ein, sondern beginnt zu verstehen, wie es gewesen sein muss dort aufzuwachsen.
Das Buch war der erste weltweit erfolgreiche Titel in der Mainstream-Literatur mit einer sehr persönlichen Perspektive auf ein Land, das in den Nachrichten nur über Krieg präsent war. Es wurde als literarischer Vermittler zwischen Kulturen gesehen. Die Verfilmung zum Buch könnt ihr auch Streamen:
2004
Juli Zeh: "Spieltrieb"
Juli Zehs "Spieltrieb" folgt der hochintelligenten, zugleich zynischen Schülerin Ada, die zusammen mit ihrem Mitschüler Alev ein gefährliches Experiment startet: Gemeinsam verführen sie den jungen Lehrer Smutek und erpressen ihn, um die Grenzen von Moral, Macht und Verantwortung auszuloten.
Der Roman verwebt eine Coming-of-Age-Geschichte mit philosophischen und gesellschaftskritischen Fragen zu Freiheit, Manipulation und der Grauzone zwischen Täter und Opfer. Für viele Millennials war der Roman prägend, weil er den intellektuellen Übermut und die existenziellen Selbsttests einer Generation inszeniert, die in einer komplexen, moralisch ambivalenten Welt erwachsen wurde. Zehs provokante Mischung aus psychologischer Spannung und kluger Analyse machte das Buch zu einem viel diskutierten Werk der deutschen Gegenwartsliteratur. Ich habe ihn, wie viele weitere gesellschaftliche hochrelevante Romane von Juli Zeh, wirklich verschlungen.
2005
Jonathan Safran Foer: "Extrem laut und unglaublich nah"
Ein weiteres Buch, dass die Ereignisse des 11. Septembers beleuchtet, ist der zweite Roman von Erfolgsautor Jonathan Safran Foer "Extrem laut und unglaublich nah". Wir erleben darin den 11. September in New York aus der Perspektive des kleinen Oskars, dessen Vater bei dem Anschlag zwei Jahre zuvor ums Leben kam. Der altkluge und phantasievolle Junge ist seitdem tief verstört und flüchtet sich in seine Phantasiewelt. Dort ist er Erfinder, Schmuckdesigner und Tamburinspieler.
Eines Tages macht er sich auf, herauszufinden, warum sich sein Vater, der ein Schmuckgeschäft führte, ausgerechnet an dem Tag des Anschlags im World Trade Center befand. Dabei gerät er von einem irrwitzigen Abenteuer in das nächste.
Ein berührendes Buch und ein Versuch die schrecklichen Ereignisse dieses Tages, bei dem so viele Menschen starben, in Worte zu fassen. Es zeigt, wie nachhaltig dieser Anschlag viele Familien zerstörte und Schicksale beeinflusst hat. Jonathan Safran Foer findet mit unkonventionellen Mitteln literarische Worte für kollektive Traumata und verknüpft Intimität und globale Ereignisse gekonnt. Auch dazu gibt es eine sehenswerte Verfilmung mit Tom Hanks in der Hauptrolle.
Natürlich hätten wir viele weitere Bücher hier nennen können, die ebenfalls wichtig waren. Diese Auswahl ist meine persönliche, die ich für diese Jahre für prägend und lesenswert halte – auch jetzt noch 25 Jahre später. Vielleicht konnte ich den einen oder die andere zur Lektüre anregen.








