Kinder stehen in einer Familie immer im Mittelpunkt. Und das sollten sie auch. Narzisstische Mütter sehen das anders: In ihren Familien dreht sich alles um die Mama – und wenn nicht, dann sorgt sie mit allen Mitteln dafür. Mit fatalen Folgen: Die Mutter-Kind-Beziehung ist extrem geschädigt und die kleinen Seelen leiden mitunter ihr ganzes Leben. Wir haben mit Dr. Oliver Dierssen, einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, zu dem Thema gesprochen.
Was sind narzisstische Mütter und wie äußert sich das?
Dr. Dierssen weiß, dass Mütter mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung selbst in großer Not sind. Sie können weder mit sich noch mit anderen Menschen in ihrem Umfeld eine ausgeglichene, liebende Beziehung eingehen.
Beim Narzissmus dreht sich alles um den Selbstwert. “Es fällt Menschen unterschiedlich leicht, ihr Selbstwertgefühl stabil zu halten. Einigen gelingt das nur durch ständigen Zuspruch von außen. Wenn das bestimmende Merkmal in der Eltern-Kind-Beziehung ist, dass Kinder an erster Stelle den Lebensplan und den Lebenssinn ihrer Eltern erspüren und erfüllen sollen, kann eine narzisstische Konstellation vorliegen.” so Dr. Dierssen.
Narzisstische Mütter sehen in ihren Kindern sich selbst. Sie lieben ihre Kinder ungemein, sie lieben, wie die Kinder sie bewundern. Dr. Dierssen führt weiter aus und beschreibt, dass narzisstische Mütter den "Abkömmling" von sich selbst im Kind über alles lieben. Solange sich das Kind nach der Mutter richtet, handelt es sich um eine ausgeprägte und sehr enge Beziehung.
Anders ist es, wenn das Kind älter wird und sich autonom entwickelt/entwickeln will. Dann haben narzisstische Mütter Schwierigkeit, das Bedürfnis des Kindes nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu akzeptieren. Sie ziehen sich dann gekränkt zurück und können ihre Kinder eben nicht mehr so unterstützen, wie wir es vielleicht erwarten würden.
Die Bedürfnisse der Kinder stehen dann hinten an, werden teilweise gar nicht befriedigt. Die Welt dreht sich nur um die narzisstische Mutter, was eben im Zusammenspiel mit einem nach Autonomie bedürftigen Kind schwierig wird.
Eine Anmerkung zum Begriff
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass eigentlich ausschließlich von narzisstischen Müttern die Rede ist. Und das, obwohl statistisch betrachtet Männer häufiger unter narzisstischen Störungen leiden. Ein möglicher Grund dafür: Die Beschreibung von narzisstischen Müttern wird seit den 70er Jahren beobachtet, als sowohl die Stellung der Frau eine andere war. Außerdem wurde damals versucht, das Thema Pädophilie zu verharmlosen. Durch das Label einer narzisstischen Mutter ergeben sich für viele Frauen insbesondere bei Sorgerechtsstreitigkeiten vor Gericht viele Nachteile.
Was macht der Narzissmus der Mutter mit den Kindern?
Es besteht daher die Gefahr, dass Kinder von Narzissten nicht liebevoll begleitet werden, was gerade bei Entwicklungsschritten ungemein auffällt. Die Kinder sind auf sich alleine gestellt, verängstigt und verunsichert. Sie können keine stabile Persönlichkeit aufbauen, weil ihnen genau dann der liebe- und verständnisvolle Umgang entzogen wird.
Häufig sehen narzisstische Mütter sich selbst in ihren Töchtern, deshalb haben gerade sie es häufig schwer. In der Pubertät wird die Tochter in den Augen der Mutter zur Konkurrenz. Wir alle wissen, dass aber gerade Kinder in der Pubertät besonders sensibel sind und Unterstützung benötigen, um sich zurechtzufinden.
Dr. Dierssen erklärt weiter: “Wenn ein Kind sich so entwickelt, dass es vor allem die übergroßen Bedürfnisse und Sehnsüchte der Eltern stillt, kommt die individuelle Entwicklung des Kindes zu kurz. Es kann dabei den Zugang zu seinen eigenen Gefühlen und Wünschen verlieren und sich – statt sich frei zu entfalten – wie ein eng verdrahteter und verbogener Bonsaibaum zu einem kleinen Spiegelbild der Eltern entwickeln.”
"Da die eigenen Bedürfnisse des Kindes dabei auf der Strecke bleiben, läuft auch das Kind Gefahr, als Erwachsener später selbst diese unstillbaren Sehnsüchte zu entwickeln und sie auf die eigenen Kinder zu übertragen", führt Dr. Dierssen fort.
Wie können Kinder mit narzisstischen Müttern umgehen?
Gerade kleinere Kinder können sich selbst nicht aus ihrer Lage befreien. Sie merken ja auch gar nicht, dass sie nicht geborgen aufwachsen. Das fällt ihnen frühestens in der Schule auf. Noch dazu liebt jedes Kind seine Mutter, egal was sie tut oder nicht tut.
Dr. Dierssen führt dies weiter aus: “Kinder spüren in der Regel nicht, was mit ihren Eltern los ist. Vielmehr erleben sie die Eltern mal als herzensgut, spendabel und fürsorglich, dann wieder als schwach, bedürftig und kränkbar. Dies führt oft zu einer zu intensiven und die kindliche Psyche sehr belastenden Bindung an die Eltern, was die gesunde Autonomieentwicklung erschwert.”
Betroffene berichten, dass sie erst im Erwachsenenalter bemerkt haben, was eigentlich los ist und auch häufig dazu Unterstützung aus dem Umfeld benötigen, um sich abzukapseln. Um die Verhaltensmuster narzisstischer Mütter nicht zu übernehmen und um die eigene Kindheit aufzuarbeiten, holen sich viele Betroffene die Hilfe eines Psychologen.
Es gibt also kein Patentrezept und die Betroffenen müssen selbst ihren Weg finden. Einige Kinder von narzisstischen Müttern haben ihr Erlebnis in Büchern verarbeitet. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, Mut zu schöpfen?
Wie kann das Umfeld der Familie helfen?
Da die Demütigungen der Mutter hinter verschlossener Tür stattfinden, ist es für das Umfeld schwer, einzugreifen. Sucht vielleicht das Gespräch mit den Kindern und auch der Mutter. Auch das Jugendamt kann das Umfeld unterstützen und eine erste Anlaufstelle sein. Seht nicht weg, sondern versucht der ganzen Familie zu helfen.
Aus seiner Erfahrung weiß Dr. Dierssen, dass es schwierig ist, Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeit zu helfen, da sich diese ihrer psychischen Probleme nur selten in vollem Umfang bewusst sind. Aus diesem Grund sehen narzisstisch strukturierte Eltern Hilfe von außen häufig kritisch und werten hilfsbereite Personen als „Eindringlinge“ ab.
Abschließend fasst Dr. Dierssen zusammen: “Die betroffenen Kinder brauchen vor allem beständige und verlässliche Bezugspersonen von außen, die sich an der Loyalität des Kindes zum betroffenen Elternteil nicht zu sehr stören. Ein Fehler wäre es, die Kinder in Loyalitätskonflikten zu verstricken oder sie gar dazu zu bringen, sich gegen das betroffene Elternteil zu stellen. Dies gelingt nur dann, wenn über einen sehr langen Zeitraum andere tragfähige Erziehungspersonen da sind und dem Kind den Rücken stärken.”
Wir danken Dr. Dierssen für das ausführliche Interview!
Aktuelles Forschungsprojekt: Ihr könnt teilnehmen
Die Frage, wie sich die Beziehung zwischen Kindern und Eltern im Erwachsenenleben weiterentwickelt und inwieweit uns diese in der Gegenwart beeinflusst, ist Teil vieler wissenschaftlicher Arbeiten. Und genau darum geht es auch in einer aktuellen Forschungsarbeit der Diplom-Psychologin Dorothea Kastenschmidt.
Um zu der Thematik Näheres herausfinden zu können, ist es jedoch notwendig, dass Freiwillige sich ein paar Minuten Zeit nehmen, um einige Fragen zu beantworten. Wenn ihr Teil dieses Projekts sein und etwas zu der Forschungsarbeit, die in Kooperation mit der Universität Paderborn stattfindet, beitragen wollt, dann könnt ihr online diesen Fragebogen ausfüllen. Der Untersuchungszeitraum endet am 15.11.2021.
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