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Experten-Interview

Mutterkomplex als Bindungsthema: Hintergründe zu einem umstrittenen Begriff

Mutterkomplex

Der sogenannte Mutterkomplex ist ein genauso irreführender Begriff wie der Vaterkomplex. Dennoch taucht er immer wieder im Zusammenhang mit angeblich problematischen Beziehungsmustern von Männern gegenüber Frauen auf: Die Mutter sei dann "Schuld" an der Beziehung des erwachsenen Mannes. Es wird Zeit, dass wir endlich aufhören, solche antiquierten Begriffe plakativ zu verwenden.

Der historische Mutterkomplex bei Carl Gustav Jung

In der Psychoanalyse betrachtet man den Begriff "Mutterkomplex", der auf den Psychologen Carl Gustav Jung zurückgeht, längst als überholt und nicht zielführend für irgendeine Art von Pathologie. Jung unterschied damals zwischen einem positiven und einem negativen Mutterkomplex.

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Beim positiven Mutterkomplex nach Jung kommt das männliche Kind nicht von der Mutter los, stellt diese auf ein Podest und fühlt sich im Erwachsenenalter von eher mütterlichen Frauen angezogen, die es umsorgen. Beim negativen Mutterkomplex nach Jung lehnt das Kind die eigene Mutter und alles Mütterliche ab, hat also eine "problematische" oder fehlende Bindung zur ihr. Das damalige Erklärungsmodell dahinter ist der freudsche Ödipuskonflikt, der in der Psychoanalyse einen langen kritischen Diskurs hinter sich hat.

Mutterkomplex heute: Wenn ein Mann auf ältere, mütterliche Frauen steht

Umgangssprachlich und im Boulevardjournalismus liest man immer wieder davon, ein Mann habe einen "Mutterkomplex", wenn er öfter auf einen bestimmten älteren mütterlichen Frauentyp steht. So passiert es zum Beispiel in diesem Focus-Artikel. Dann wird abwertend und verkürzt von einem mütterlichen Komplex gesprochen, der hier als problematisch angesehen wird.

Der Mann könne sich nicht auf die ein oder andere Art von seiner Mutter lösen oder suche in seinen Partner*innen immer wieder seine Mutter bzw. würde die Beziehung zu dieser damit aufarbeiten. Diese Verhaltensweisen kann es geben. Doch hier wird zur Erklärung ein Begriff verwendet, der auf Sexismus basiert bzw. der aus einem Verhalten gleich einen problematischen Komplex macht, den es zu behandeln gilt.

Um genauer zu verstehen, was dahinter eigentlich steckt und dass das viel mehr mit einer Bindungsthematik zu tun hat, haben wir mit der systemischen Sexualtherapeutin Julia Henchen gesprochen.

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Julia Henchen ist systemische Familien-, Paar- und Sexualtherapeutin.

Der Mutterkomplex ist ein veralteter Begriff aus der Jungschen Psychologie, den man dennoch heute in einigen Zusammenhängen von Männern und Beziehungsproblemen zu Frauen immer mal wieder liest. Was hältst du von dieser Begrifflichkeit?

"Ich finde diesen Begriff genauso problematisch wie den Begriff "Vaterkomplex", denn er macht ein Bild auf, eine Idee, welche häufig nicht annähernd die eigentliche Problematik beschreibt. Denn auch hier finden wir natürlich Bindungsthemen, Entwicklungsthemen, die wir damit "kleinreden", aber auch das Problem, dass Liebe und das Alter ein Konstrukt ist, welches von unserer Gesellschaft gemacht wurde. Es ist erst einmal nichts dabei, jemanden zu lieben, zu begehren oder in einer Beziehung mit jemandem zu sein, der oder die älter ist. Die Frage für mich: ist ein Machtgefälle zu erkennen oder eine andere Problematik, die den Menschen nicht guttut."

Ist der sogenannte Mutterkomplex, ähnlich wie der Vaterkomplex, auch auf eine problematische Bindung zurückzuführen? Beim Vaterkomplex sagtest du, dass es eher grundsätzlich um fehlende kindliche Bindung geht und das mit dem Geschlecht nichts zu tun hat.

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"Ja, es kann, genauso wie beim Vaterkomplex, ein Thema sein, wobei beim "Mutterkomplex" weitere gesellschaftliche Themen hinzukommen, wie zum Beispiel die Vorstellung, dass Alter etwas mit Erfahrung, vor allem sexuelle, zu tun hat: Wir nehmen an, Menschen, die älter sind, wissen besser, was sie im Bett wollen. Und an dieser Annahme ist natürlich häufig auch etwas Wahres dran. Dennoch macht es ein Bild der "reifen Frau" auf, die "zeigt, wie es geht".

Beim sogenannten Mutterkomplex können also weitere, vor allem sexuelle Ideen, mit hineinspielen. Prinzipiell lohnt sich aber der Blick: Welche Bedürfnisse stecken hinter dieser Beziehung? Ebenso wie beim sogenannten Vaterkomplex."

"Spannend auch der Blick, dass Frauen in unserer Gesellschaft häufig diejenigen sind, die sich kümmern, die andere umsorgen etc. Auch das könnte also ein Thema sein."
Julia Henchen

Wie wichtig ist eine sichere frühkindliche Bindung und inwiefern wirken sich unsichere Bindungen in der Kindheit auf spätere Beziehungen im eigenen Leben aus?

"Unsere Bindungen und das Angebot, welches wir dafür bekommen haben, was wir erlebt haben und was wir erlernt haben, wirken sich immer auf unser späteres Leben und unsere Beziehungen aus. Das kann sehr gravierend sein, oder nicht. Denn es ist sehr individuell, wie wir Dinge zum Beispiel wahrnehmen und integrieren.

Es ist also letztendlich eine individuelle Frage, was vorgelebte Beziehungen und unsere Bindung später für einen Einflussfaktor haben. Wenn wir das Gefühl haben, wir haben Schwierigkeiten Bindungen einzugehen, oder geraten immer an die falschen Partner*innen, können wir uns aber Hilfe holen in Form einer Sexualberatung oder Therapie."

Wenn Menschen sich immer wieder ähnliche Partner*innen suchen, wird oft von einem „Beziehungsmuster“ geredet. Ist da etwas dran, dass Erwachsene mit unsicherer oder problematischer Elternbindung in der eigenen Kindheit diese emotionalen Defizite später in ihrer Liebesbeziehung „kompensieren“ möchten?

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"Ja, jedoch müssen wir hier etwas vorsichtig sein, denn wir alle haben bestimmte Partner*innen, die wie Schlüssel ins Schloss passen, da sie zu unseren Mustern und Bindungen passen. Das ist also erst einmal nichts Ungewöhnliches oder Komisches. Prüfe einmal, welche Eigenschaften oder andere Ähnlichkeiten du bei allen deinen Ex-Partner*innen identifizieren kannst.

Wir alle handeln immer nach unseren erlernten Mustern. Auch hier ist die Frage: Tut es uns gut? Und wenn die Antwort "nein" oder "eher nicht" lautet, sollten wir handeln - in Form von einer Beratung zum Beispiel. Bindungstypen und Bindungsmuster prägen uns alle, sollten uns aber nicht schmerzen."

Warum werden solche Begriffe wie Vaterkomplex oder Mutterkomplex vor allem häufig von Boulevardmedien immer noch gern verwendet, obwohl Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen darauf hinweisen, dass sie nicht zielführend sind bzw. von einer sexistischen Denkweise geprägt?

"Weil wir in einer sexistisch und rassistisch geprägten Gesellschaft leben. Diese Machtstrukturen zu durchbrechen ist schwierig und kostet viel Kraft. Ich habe aber das Gefühl, dass vor allem die sozialen Medien dazu beitragen können, denn hier bekommen marginalisierte Personengruppen eine Stimme. Zwar werden auch hier Menschen von Instagram unsichtbar gemacht, aber die Communitys helfen dabei, sichtbar zu bleiben. Es lohnt sich also auch zu schauen, was wir selbst konsumieren und sich bewusst dafür zu entscheiden, Dinge nicht mehr zu unterstützen. Denn Angebote entstehen aus der Nachfrage."

Über unsere Expertin Julia Henchen

Julia Henchen ist systemische Therapeutin mit Schwerpunkt Sexualität und Trauma. Sie berät in ihrer Praxis (oder online) Einzelpersonen, Paare oder Familien bei Fragen bzw. Problemen zur Sexualität, Liebesbeziehung, Bindung, Erziehungsfragen, Aufklärung oder Familienkrisen.

Außerdem ist sie Autorin des E-Books "Lustfaktor" und Co-Autorin im "Journal für deine Lust". Mehr über ihre Arbeit oder Publikationen findet ihr unter Lustfaktor.

Ihr interessiert euch für Beziehungs- und Bindungsprobleme? Hier sind einige Buchtipps zum Thema zur weiteren Recherche für euch:

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Katja Nauck

Wir sollten Psychoanalyse auch den Experten überlassen

Durch das Gespräch mit Julia Henchen wird nochmal deutlich, was wir heutzutage nicht machen sollten: Begriffe aus der Psychoanalyse heute so weiterverwenden wie damals, ohne zu reflektieren, dass diese einen Diskurs durchlaufen sind. Ich finde, es ist einfach auch wenig zielführend, anderen Menschen Komplexe zu unterstellen, weil sie z.B. in einer Beziehung bestimmte Muster erkennen lassen.

Wer das Gefühl hat, er selbst oder der Partner bzw. die Partnerin könnte eine Bindungsproblematik haben, die die Beziehung belastet, der kann das vorsichtig ansprechen und sich therapeutische Hilfe holen. Doch es nützt nichts, sich gegenseitig vorschnell zu verurteilen oder Küchenpsychologie zu betreiben. Nur ein Therapeut kann feststellen, ob ein Verhalten pathologisch ist. Das professionelle Gespräch suchen solltet ihr immer dann, wenn euer oder das Verhalten eures Partners oder der Partnerin euch oder ihn verletzt.

Katja Nauck

Wie prägt dich die Beziehung zu deiner Mutter?

Bildquelle: Getty Images/fizkes, Bild Julia Henchen: Kim Hoss

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