Wie weit geht normales Verhalten – und wann werden Eigenheiten kritisch? Antworten auf eine oft gestellte Frage.

Welches Kind will schon immer, wie es soll? Keines natürlich. Kinder können durch ihr Verhalten ihre Eltern wunderbar auf die Palme bringen; das muss ihnen niemand extra beibringen. Doch die Sorge vieler Eltern – etwa, wenn sie sehen, dass ihr Baby schreit und zwar viel häufiger als andere oder dass die Trotzanfälle ihres Kleinkindes scheinbar allzu heftig ausfallen – ist immer wieder: Stimmt wirklich alles mit meinem Kind?
Typisches Verhalten ist ein statistischer Wert
In der Tat ist es schwierig zu entscheiden, wo Normverhalten endet und wo Abweichungen beginnen, die möglicherweise auf ernsthafte Entwicklungsstörungen hindeuten. Ohne den Rat von Fachleuten ist man oft aufgeschmissen – und selbst die können meist nur entgegnen, dass die „Normvarianz“, also das Spektrum, innerhalb dessen eine gesunde Entwicklung stattfinden kann, sehr, sehr hoch ist und Platz lässt für vieles, was man mit ungeschultem Auge als unnormal empfinden mag.
Immerhin gibt es gewisse Orientierungspunkte. Jeder Elternratgeber führt bestimmte „Meilensteine“ auf. Wann sollen Babys angefangen haben, sich eigenständig zu drehen? Wann sollen sie krabbeln? Wann sollen sie laufen? Wann Zwei-Wort-Sätze sprechen? Jeder Entwicklungsschritt, ob motorisch, kognitiv, sprachlich oder im Sozialverhalten, findet typischerweise in einem bestimmten Lebensalter statt. Aber das „Typische“ ist eben nur ein statistischer Wert – das, was dabei herauskommt, wenn das Verhalten eine größere Anzahl von Babys wissenschaftlich begleitet und anschließend ein Mittelwert gebildet wird.
Grenzsteine definieren normales Verhalten bei einem Kind
Darin, diesen Mittelwert mit einem absoluten Gebot zu verwechseln, liegt die Quelle vieler unnötiger Sorgen junger Eltern. Denn wenn man sich die Erhebungsmethoden mancher „Meilensteine“ genau anschaut, wird man feststellen, dass zum angegebenen Alter nicht mehr als 50 Prozent der untersuchten Babys das jeweilige Kriterium erfüllt haben müssen. Was die Frage betrifft, ob ein Kind normal ist und sich gesund entwickeln wird, hat ein solcher Meilenstein also genau die gleiche statistische Aussagekraft, als ob man eine Münze geworfen hätte.
Eine sinnvollere Art der Betrachtung, die sich mehr und mehr durchsetzt, sind die sogenannten „Grenzsteine der Entwicklung“; ein Konzept, das Richard Michaelis, langjähriger Professor für Kindesentwicklung und Kinderneurologie an der Uni Tübingen, entwickelt hat. Michaelis legt an seine Grenzsteine ein Kriterium von 90 bis 95 Prozent an. Und selbst die wenigen Spätentwickler, die das Grenzstein-Alter überschreiten, ohne die jeweilige Fähigkeit entwickelt zu haben, sind nicht automatisch entwicklungsgestört. So individuell der „Mix aus Genetik und Anpassung“, wie Michaelis Entwicklung definiert, bei jedem Kind ausfällt, besteht auch dann meist noch die Möglichkeit, aufzuholen. Zur Sicherheit empfiehlt sich aber eine Überprüfung durch einen Facharzt.
Jedes Kind hat sein eigenes Tempo
Vierfüßlerstand mit sechs Monaten, in die Hände klatschen mit acht Monaten, Pinzettengriff mit neun Monaten – kein Kind hakt alle Entwicklungsschritte völlig normgerecht ab. Tatsächlich ist es so, dass kaum ein Kind in allen Entwicklungsbereichen gleich schnell ist, wie Dr. Jörn Borke, Entwicklungspsychologe an der Uni Osnabrück, sagt: „Es ist eher der Normalfall, dass Kinder unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten beispielsweise im sprachlichen und motorischen Bereich haben. Wir haben eine Studie mit 19 Monate alten Kindern gemacht, und von denen konnten manche ganz toll krabbeln, haben aber kaum gesprochen, während andere, die sprachlich viel weiter waren, motorisch eher weniger konnten. Es gab nur ganz wenige Kinder, die in beidem gleich weit entwickelt waren.“
Und selbst das Auslassen von Entwicklungsschritten muss noch lange kein Alarmzeichen sein. Ein klassischer Fall, wie Kinder auch „auf Umwegen“ ans Ziel kommen, ist das Po-Rutschen, das bei einer Minderheit von Babys das Krabbeln ersetzt. Diese Abweichung von der Norm ist als Alternative anerkannt. Denn Krabbeln und Rutschen – oder auch Robben und Schlängeln – liegt die gleiche kognitive Leistung zugrunde: dass sich das Baby für bestimmte Gegenstände in seiner Umgebung interessiert und sie näher erkunden möchte; außerdem lernen Po-Rutscher im Durchschnitt auch nicht später laufen, als Krabbelkinder, die alles „richtig“ gemacht haben.
Ein Kind in seinem Verhalten nicht ständig hinterfragen
Das „einfache Kind“ ist noch nicht erfunden worden. Ob es nun um ständiges Schreien, um einen mangelhaften Schlafrhythmus oder um Trotzattacken geht, es gilt: Anstrengende Kinder gibt es viele, aber nicht jedes davon ist entwicklungsauffällig. Was allen Eltern zu raten ist: Sie sollten ihr Kind nicht ständig als potenziell gefährdet sehen oder sein Verhalten auf Abweichungen überprüfen. Wer sich über die Stärken seines Kindes freut statt seine Schwächen zu beklagen, tut einen wichtigen Schritt für eine gute, gesunde Entwicklung.
Normales Verhalten oder Entwicklungsstörung?
Lesen Sie hier ein Interview mit Dr. Jörn Borke zum Thema normale Entwicklung bei Kindern. Dr. Borke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Osnabrück und des niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung.
Experten-Interview mit Dr. Jörn Borke

Wo verläuft die Grenze zwischen anstrengendem Verhalten und Entwicklungsstörungen?
Dr. Jörn Borke: Wann Kinder verhaltensauffällig sind, ist schwierig zu sagen, weil es sehr variabel ist, zu welchem Zeitpunkt Kinder bestimmte Entwicklungsziele erreichen.
Kann man ständiges Schreien und extreme Trotzanfälle also einfach nur hinnehmen?
Es gibt Kinder, die anstrengend sind, die ein schwieriges Temperament haben. Aber natürlich können auch Belastungen oder Schwierigkeiten der Eltern oder des Umfeldes zu anstrengendem kindlichen Verhalten führen. In der Babysprechstunde, die wir an der Uni Osnabrück anbieten, sagen wir: Alle sind beteiligt, aber niemand ist schuld. Auf ein Kind beispielsweise, das seine Zeit braucht, um Reize zu verarbeiten, muss man anders eingehen als auf eines, das damit kein Problem hat.
Was aber, wenn Eltern den Verdacht haben, dass mehr dahinterstecken könnte?
Es ist viel Unsicherheit da, und auch viel Leistungsdruck, schon im Babyalter. In vielen Fällen kann es für Eltern erleichternd sein, sich auf die Debatte „Ist das normal oder nicht?“ gar nicht erst einzulassen. Es werden oft allzu schnell und allzu früh Therapien losgetreten, und das kann auch nach hinten losgehen: Wenn Kinder daraus immer wieder die Erfahrung mitnehmen, dass sie etwas nicht können.
Eine Entwicklung des Kindes, die einem Sorge bereitet, kann man aber doch nicht einfach ignorieren?
Es gilt natürlich zu vermeiden, dass ernsthafte Fehlentwicklungen nicht erkannt werden. Die „Grenzsteine“, die darlegen, welche Entwicklungsschritte 90 Prozent und mehr der Kinder einer bestimmten Altersstufe erreicht haben, sind eine seriöse Liste, die hilft, Entwicklungsverläufe einzuordnen. Aber auch da sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Wenn das Kind etwas nicht kann, beispielsweise nach dem 24. Monat noch nicht sicher läuft, heißt das immer noch nicht zwingend, dass es eine Störung gibt, aber es ist ein Hinweis darauf, dass hier näher beobachtet und getestet werden sollte, ob eine Entwicklungsproblematik vorliegt.
ADHS und KiSS: Können diese Diagnosen Normabweichung erklären?
Zwei Beispiele für Krankheitsbilder, die immer häufiger auch bei Babys und Kleinkindern diagnostiziert werden
ADHS: Die rasante Zunahme der Fallzahlen deutet darauf hin, dass ADHS eine 'bequeme' Diagnose ist. Vorsicht: Zum Aufmerksamkeitsdefizits-Syndrom beziehungsweise zur Hyperaktivität gehören so viele Einzelsymptome, dass auch Verhalten, das noch im Norm bereich liegt, dem Krankheitsbild zugeordnet werden kann.
KiSS-Syndrom: Die 'Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung' ist eine Wirbelfehlstellung, die oft als Ursache für exzessives Säuglingsschreien ausgemacht wird. Die Herangehensweise von Ostheopathen besteht in sanftem Wiedereinrenken. Erster Ansprechpartner ist immer der Kinderarzt. Achtung: Die Diagnose KiSS-Snydrom ist medizinisch umstritten und wird nicht im Allgemeinen von der Schulmedizin und den Krankenkassen nicht anerkannt.
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