Jedes Jahr kaufte Papa Heinze am Tag vor Heiligabend einen Weihnachtsbaum. Aber Papa Heinze hatte nie viel Glück dabei. Mal war der Baum zu groß, mal war er zu klein. Mal hatte er auf einer Seite ein großes Loch, mal rieselten die Nadeln schon am ersten Weihnachtstag zu Boden. Aber für jedes Problem hatten die Heinzes eine Lösung: Einen zu großen Baum konnte man schräg stellen, einen zu kleinen auf ein Tischchen setzen.
Ein Loch konnte man mit tief hängenden Holzengeln verstecken, und mit den Nadeln konnte man den Heiligen Drei Königen eine Straße zur Krippe legen. »Wir haben den allerschönsten Baum in der Stadt!«, sagte Mama Heinze jedes Jahr, wenn sie, Niko und Emma fertig waren mit Schmücken. Und das fanden Niko und Emma auch.
In diesem Jahr jedoch war etwas Furchtbares passiert: Papa Heinze hatte überhaupt keinen Baum gekauft. Seine neue Arbeit in der Lebkuchenfabrik war vor Weihnachten besonders anstrengend, da natürlich alle Leute in dieser Zeit Lebkuchen kaufen wollten. Deshalb musste Papa Heinze immer extra lange arbeiten. Und darüber hatte er völlig vergessen, einen Weihnachtsbaum zu kaufen.
Als er am Abend vor Heiligabend nach Hause kam, warteten Mama, Niko und Emma schon gespannt an der Tür, um den neuen Weihnachtsbaum zu sehen. »Aha«, stellte Mama Heinze fest, »dieses Jahr wird es ein unsichtbarer Baum.« »Oh nein!«, rief Papa Heinze. Er machte auf dem Absatz kehrt, sprang in sein Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Irgendwo musste es um diese Uhrzeit doch einen Weihnachtsbaum geben! Emma und Niko warteten derweil am Küchenfenster darauf, dass Papa Heinze wieder auftauchte. »Weihnachten ohne Baum«, sagte Emma, »das wäre ganz schön blöd, oder?« »Ja«, sagte Niko traurig, »das wäre ja gar kein richtiges Weihnachten.«
Nachdem sie in der Küche zwanzig Runden Mau-Mau gespielt hatten, tauchten endlich Papa Heinzes Scheinwerfer in der Einfahrt auf. Emma und Niko drückten sich die Nasen am Fenster platt, während Papa Heinze aus dem Auto stieg und den Kofferraum öffnete. »Er hat noch einen gefunden!«, schrie Niko. Und tatsächlich holte Papa Heinze einen Baum aus dem Auto. Er war fest mit einem Plastiknetz umwickelt. Erleichtert schauten Emma und Niko zu, wie Papa Heinze den Baum ins Wohnzimmer trug.
»Da hatte ich ja noch mal Glück. Ich habe den Baum bei dem Mann gekauft, der immer am alten Brunnen steht. Es war sein letzter Baum, und er hat ihn mir fast umsonst gegeben «, erzählte Papa Heinze stolz. Mama Heinze runzelte die Stirn. »Er hat eine ungewöhnliche Farbe. Sah der Baum denn ohne Netz gut aus?« »Na ja«, brummte Papa Heinze unsicher, »das Netz war schon drum … Aber Hauptsache ist doch, dass ich überhaupt noch einen Baum bekommen habe, oder?« Da waren sich alle einig.
Ans Auspacken und Schmücken war allerdings nicht mehr zu denken. »Ab ins Bett, es ist spät!«, sagte Mama Heinze energisch. »Um den Baum kümmern wir uns morgen früh.« »Du, Niko«, flüsterte Emma, als sie im Bett lagen. »Aus dem Netz guckten so komische Stacheln raus.« Niko gähnte. »Was? Egal, es wird sowieso der allerschönste Baum in der Stadt!« »Na klar«, murmelte Emma im Halbschlaf. Doch am nächsten Morgen war der Baum weg. Noch im Schlafanzug versammelten sich die Heinzes im Wohnzimmer und schauten ratlos auf die Stelle, wo am Abend zuvor der Weihnachtsbaum gelegen hatte.
»Hat den jemand geklaut?«, fragte Niko entrüstet. Emma begann zu weinen. »So eine Gemeinheit! Jetzt haben wir keinen Baum!« Papa Heinze kratzte sich am Kopf. »Ich zieh mich schnell an und schau draußen nach. Vielleicht gibt es ja Spuren.« Eilig ging er ins Schlafzimmer und öffnete die Tür vom großen Wandschrank. Plötzlich wurde er kreidebleich. Mit einem lauten Knall schlug er die Tür wieder zu. »K-k-kommt mal her, das müsst ihr euch ansehen!«, rief er aufgeregt. Mama Heinze, Emma und Niko rannten ins Schlafzimmer. Ganz, ganz vorsichtig öffnete Papa Heinze die Schranktür. In dem Schrank lag etwas. Es war groß, grün und hatte dicke Stacheln. Es atmete. Außerdem hing ein zerrissenes Weihnachtsbaumnetz von dem Ding runter.
»Was ist denn das?«, flüsterte Emma. Mama Heinze legte beschützend die Arme um ihre Kinder. »Ich ruf die Polizei!«, murmelte sie. Doch in diesem Moment bewegte sich das Ding im Schrank, und unter Papas Hemden erschien ein knubbeliger Kopf mit großen schwarzen Knopfaugen. Die starrten erschrocken auf die Heinzes, und der Kopf verschwand ganz schnell wieder unter Papas Hemden. »Hilfe, Hilfe, Hilfe!«, hörten es die Heinzes aus dem Schrank murmeln. Das Ding im Schrank schien völlig verschreckt zu sein. Niko nahm all seinen Mut zusammen. »Ähem, entschuldige«, sagte er, »bist du unser Weihnachtsbaum? Hat dich vielleicht jemand verzaubert oder so?« Das Ding im Schrank bewegte sich, und der Kopf erschien erneut unter den Hemden. »Ich bin ein Stacheldrache«, grummelte es. »Bitte tut mir nichts! Gestern Nacht bin ich in diese blöde Netzmaschine geflogen. Man hat mich völlig verschnürt und durch die Gegend getragen. Als ich mich endlich befreien konnte, wusste ich nicht mehr, wo ich bin!«
Papa Heinze hatte nie viel Glück mit Weihnachtsbäumen gehabt. Aber einen Drachen hatte er bisher noch nie erwischt. Er schüttelte fassungslos den Kopf. Mama Heinze wusste wie immer, was zu tun war. »Nun komm mal aus dem Schrank raus, lieber Stacheldrache«, sagte sie freundlich. »Wir tun dir nichts.« Der Drache zögerte einen Moment. Dann kroch er langsam aus dem Kleiderschrank. Ein Hemd von Papa Heinze hing ihm noch über seinem stacheligen Kopf. Er hatte einen langen Schwanz und fellige Pfoten. Auf seinem Rücken waren zwei Flügel zusammengefaltet, wie Fledermausflügel. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Papa Heinze. »Frühstücken«, sagte Mama Heinze entschlossen. Und das war wohl die beste Idee.
Der Drache lief hinter Familie Heinze her und bekam sogar einen eigenen Platz am Frühstückstisch, zwischen Emma und Niko. Er aß das gesamte Rührei und leckte den Marmeladentopf leer. So ausgehungert war er. Papa Heinze nahm einen Schluck von seinem Kaffee und seufzte. »Erstens«, stellte er fest: »Wir haben keinen Weihnachtsbaum. Zweitens: Wir haben einen Stacheldrachen.« »Was ist ein Weihnachtsbaum?«, fragte der Stacheldrache, nun mit Erdbeermarmeladenbart. »An Weihnachten«, erklärte Niko, »stellt man eine Tanne in sein Wohnzimmer und schmückt sie, damit das Christkind Geschenke darunterlegt.« »Und heute ist Weihnachten«, sagte Emma traurig. »Aber wir haben keinen Baum. Deshalb bringt das Christkind wahrscheinlich überhaupt keine Geschenke.« »Oh«, sagte der Stacheldrache. »Ihr dachtet also, ich wäre ein Weihnachtsbaum?« Die Heinzes nickten. Der Drache fing an zu lachen. Er konnte gar nicht mehr aufhören. Dann lachten auch die Heinzes mit, denn irgendwie war das alles ziemlich lustig! Als sie sich wieder beruhigt hatten, sagte der Drache: »Ich bin zwar keine Tanne, aber ich bin grün, stachelig, und ich kann ziemlich lange still stehen. Zumindest so lange, bis dieses Christkind die Geschenke gebracht hat.« Emma und Niko rissen die Augen auf. »Ein Weihnachtsdrache!«, rief Niko begeistert. »Juchhu!« Und da war es abgemacht.
Den Drachen zu schmücken, war allerdings nicht leicht. Er war nämlich äußerst kitzelig. Doch mit ganz viel Geduld und noch mehr Gekicher gelang es Mama Heinze und den Kindern schließlich, Holzengel, Girlanden, Kugeln und Kerzen an den Drachenstacheln aufzuhängen. Danach stand der Drache mucksmäuschenstill.
»Wir haben den allerschönsten Weihnachtsbaum … äh, Weihnachtsdrachen der Stadt!«, sagte Mama Heinze. Und das fanden Emma und Niko auch. Als Mama Heinze später das Glöckchen zur Bescherung läutete, stürmten Papa Heinze, Emma und Niko aufgeregt ins Wohnzimmer. Der Stacheldrache trug still und feierlich die leuchtenden Kerzen und schimmernden Kugeln. Sie funkelten mit seinen Augen um die Wette. Und das Christkind hatte tatsächlich noch die Geschenke gebracht! Familie Heinze sang O Tannenbaum – auch wenn das nicht so ganz passte -, und der Drache summte leise mit. »Du, Drache«, flüsterte Niko ihm später zu, »hast du das Christkind gesehen? « »Ja«, flüsterte der Drache und lächelte still. Denn ihm hatte das Christkind einen riesigen Topf von Oma Heinzes selbst gemachter Erdbeermarmelade gebracht.
Die Geschichte stammt aus: „3-5-8 Minutengeschichten zu Weihnachten“, Text von Maren von Anne Ameling/Illustrationen von Monika Parciak © ellermann im Dressler Verlag.
Hier könnt ihr die Geschichte „Der Weihnachtsdrache“ kostenlos downloaden.