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Der Riese und der Schneider (5-10 Jahre)

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Einem Schneider, der ein großer Prahler war, aber ein schlechter Zahler, kam es in den Sinn, ein wenig auszugehen und sich in der Welt umzuschauen. Sobald er nur konnte, verließ er seine Werkstatt, wanderte seinen Weg über Brücke und Steg, bald da, bald dort, immer fort und fort. Als er nun draußen war, erblickte er in der blauen Ferne einen steilen Berg und dahinter einen himmelhohen Turm, der aus einem wilden und finsteren Wald hervorragte. „Potz Blitz!“ rief der Schneider, „was ist das?“ Und weil ihn die Neugierde gewaltig stach, so ging er frisch darauf los.

Aber als er in die Nähe kam, sperrte er Maul und Augen auf, denn der Turm hatte Beine, sprang in einem Satz über den steilen Berg und stand als ein großmächtiger Riese vor dem Schneider. „Was willst du hier, du winziges Fliegenbein“, rief er mit einer Stimme, als wenn's von allen Seiten donnerte. Der Schneider wisperte: „Ich will mich umschauen, ob ich mein Stückchen Brot in dem Wald verdienen kann.“ – „Wenn's um die Zeit ist“, sagte der Riese, „so kannst du ja bei mir in den Dienst eintreten.“ – „Wenn's sein muss, warum denn nicht? Was krieg’ ich aber für einen Lohn?“ –„Was du für einen Lohn kriegst?“ sagte der Riese. „Das sollst du hören. Jährlich dreihundertundfünfundsechzig Tage, und wenn's ein Schaltjahr ist, noch einen obendrein. Ist dir das recht?“ – „Meinetwegen“, antwortete der Schneider und dachte im Stillen: „Man muss sich strecken nach seiner Decke. Ich versuche mich bald wieder los zu machen.“

Daraufhin sprach der Riese zu ihm: „Geh, kleiner Halunke, und hol mir einen Krug Wasser!“ – „Warum nicht lieber gleich den Brunnen mitsamt der Quelle?“ fragte der Prahlhans und ging mit dem Krug zu dem Wasser. „Was? Den Brunnen mitsamt der Quelle?“ brummte der Riese, der ein bisschen dümmlich und albern war, in den Bart hinein und fing an sich zu fürchten: „Der Kerl kann mehr als Äpfel braten. Der hat einen Zauber im Leib. Sei auf deiner Hut, alter Hans, das ist kein Diener für dich.“ Als der Schneider das Wasser gebracht hatte, befahl ihm der Riese, in dem Wald ein paar Scheite Holz zu hauen und heim zu bringen.

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„Warum nicht lieber den ganzen Wald mit einem Streich, den ganzen Wald mit jungund alt, mit allem, was er hat, knorzig und glatt?“ fragte das Schneiderlein und ging, das Holz zu hauen. „Was? Den ganzen Wald mit jung und alt, mit allem, was er hat, knorzig und glatt? „und den Brunnen mitsamt der Quelle?“ brummte der leichtgläubige Riese in den Bart und fürchtete sich noch mehr. „Der Kerl kann mehr als Äpfel braten, der hat einen Zauber im Leib: Sei auf deiner Hut, alter Hans, das ist kein Diener für dich.“

Als der Schneider das Holz gebracht hatte, befahl ihm der Riese, zwei oder drei wilde Schweine zum Abendessen zu schießen. „Warum nicht lieber gleich Tausend auf einen Schuss und dich dazu?“ fragte der hochmütige Schneider. „Was?“ rief der Hasenfuß von einem Riesen und war heftig erschrocken. „Lass es nur für heute gut sein und lege dich schlafen.“ Der Riese fürchtete sich so gewaltig, dass er die ganze Nacht kein Auge zutun konnte und hin und her dachte, wie er's anfangen sollte, um sich den verwünschten Hexenmeister von Diener je eher je lieber vom Hals zu schaffen. Kommt Zeit, kommt Rat.

Am andern Morgen gingen der Riese und der Schneider zu einem Sumpf, um den ringsherum eine Menge Weidenbäume standen. Da sprach der Riese: „Hör einmal, Schneider, setz dich auf eine von den Weidenruten, ich möchte um mein Leben gern sehen, ob du imstand bist, sie herab zu biegen.“ Husch, saß das Schneiderlein oben, hielt den Atem an und machte sich schwer, so schwer, dass sich die Gerte nieder bog. Als er aber wieder Atem schöpfen musste, da schnellte sie ihn, weil er zum Unglück kein Bügeleisen in die Tasche gesteckt hatte, zu großer Freude des Riesen so weit in die Höhe, dass man ihn gar nicht mehr sehen konnte. Wenn er nicht wieder heruntergefallen ist, so wird er wohl noch oben in der Luft herum schweben.

➤ Kategorie: Grimms Märchen
➤ entnommen aus: Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm.Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena 1912.
➤ angepasst an die zeitgemäße deutsche Sprache

Disclaimer

Liebe Leser*innen,

Grimms Märchen gehören zum kulturellen Erbe und deshalb möchten wir sie hier auch so stehen lassen, wie viele Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Dennoch: Für uns von familie.de gibt es nichts Wichtigeres, als eine vielfältige, offene und gleichberechtigte Gesellschaft. Was ihr hier in Grimms Märchen teilweise lest oder vorlest, passt mit unseren Wertvorstellungen oftmals nicht überein.

Die Märchen wurden im frühen 19. Jahrhundert zusammengetragen und waren auch damals nicht primär für Kinder gedacht. Sie sind voll von Brutalität und diskriminierenden Stereotypen. In den Geschichten finden wir nicht nur gruselige Märchengestalten wie Hexen oder Monster, sondern u.a. auch Gewalt an Kindern oder die Bevormundung von Frauen. Das ist nicht nur heute falsch, sondern war es auch damals schon. Zum Glück wachsen unsere Kinder in Zeiten auf, in denen ein Bewusstsein für diese Missstände herrscht.

Ihr kennt eure Kids am besten und daher ist es euch überlassen, ob ihr diese Erzählweise für euren Nachwuchs als angemessen anseht oder nicht; ob ihr Passagen auslasst oder abgeändert vorlest. In jedem Fall: Sprecht mit euren Kindern über das Gelesene und thematisiert das, was gegebenenfalls Angst macht oder Unrecht ist.