Tim lümmelt mit beiden Ellenbogen am Fensterbrett und schaut auf die Straße direkt vor dem Kita-Fenster. Es ist noch ganz dunkel draußen, regnerisch und kalt. Hoffentlich kommt Lea heute!, denkt Tim. Sie ist Tims beste Freundin, und er hat sich mit ihr zum Ballspielen verabredet. Fast alle Kinder sind schon da, nur Lea noch nicht. Da hält gegenüber das weiße Auto, das Leas Mama gehört. Na endlich! Lea und ihre Mama steigen aus und kommen zur Kita herüber. Lea trägt ihre rote Torwarthose. Also hat sie die Verabredung mit Tim nicht vergessen. Leas Mama hat einen orangen Sari aus Seide an. Das ist ein indisches Kleid. Lea und ihre Familie kommen aus Indien. »Was ist? Hast du keine Lust zum Ballspielen?«, fragt Tim. Lea sitzt auf dem Boden in der Ecke und lässt traurig den Kopf hängen. »Doch. Wir spielen gleich.« Tim setzt sich neben sie. Lea hat die schönsten Haare, die man sich nur vorstellen kann. Schwarz, ganz glatt und seidig. Lea ist sehr stolz darauf, weil sie fast bis zum Popo reichen. Normalerweise hat Lea die Haare zu einem Zopf gebunden.
Aber heute sind sie ganz verstrubbelt, und ihre Augen schimmern. »Was ist mit dir? Weinst du?« Lea dreht ihren Kopf weg und wischt mit dem Ärmel übers Gesicht. Tim nimmt Leas Hand und hält sie fest. »Irgendwas stimmt doch nicht. Sag schon!« Lea schnauft durch, dann lässt sie den Kopf hängen. »Es ist wegen Rakhi. Das ist mein Lieblingsfest. Und ausgerechnet ich kann es nicht feiern.« »Warum denn? Hast du was angestellt?«, erkundigt sich Tim. »Nein. Rakhi ist unser Geschwistertag. Da feiern Bruder und Schwester, dass sie zusammen sind. Die Schwester schenkt ihrem Bruder ein tolles Armband, und sie bekommt dafür ein Geschenk.« Leas Augen leuchten. »Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.« »Hab ich ja auch nicht. Aber einen Cousin. Mit dem habe ich sonst immer gefeiert. Das geht zur Not auch, wenn man keine Geschwister hat. Aber er ist weggezogen, und jetzt bin ich zum Geschwistertag allein.« Lea macht ein verzweifeltes Gesicht, und Tim begreift sofort, dass es sich schlimmer anfühlen muss als Weihnachten ohne Geschenke. »Wann ist denn der Geschwistertag?« »Morgen«, sagt Lea so leise, dass Tim sie fast gar nicht versteht. Tim streichelt Leas Hand und denkt nach. Da hat er plötzlich eine Idee. »Kannst du nicht mit jemand anderem Geschwistertag feiern?« »Mit wem denn? Ich hab doch niemand!« Tim drückt Leas Hand ein bisschen fester. Und da versteht Lea sofort, was er meint. »Wir können nicht feiern. Du bist nicht mein Bruder!« »Na und? Ein Cousin ist doch auch kein Bruder. Und ein guter Freund ist viel besser als ein Cousin, der weit weg wohnt.« Lea runzelt die Stirn. Stimmt. Da hat Tim eigentlich recht. Das wäre überhaupt das Beste, wenn sie mit Tim feiern könnte, weil sie Tim richtig gernhat. »Trotzdem. Ich muss erst meine Mutter fragen!« Leas Mama findet die Idee richtig gut. »Nach unserer hinduistischen Tradition ist es Frauen erlaubt, sich einen Freund als Bruder auszusuchen. Das machen in Indien viele Mädchen. Sie versprechen dem neuen Bruder, ihm eine gute Freundin zu sein. Und der Bruder verspricht, sie zu beschützen.« Leas Mama, Tim und Lea fahren am Nachmittag in einen indischen Supermarkt. Da kann man alles kaufen, was man braucht, wenn man indisch kochen will. Kardamom, Safran, Kreuzkümmel und vieles mehr. Tim schnuppert an den verschiedenen Gewürztüten. Sie riechen herrlich, findet er. Manche süß, andere würzig. Auch schöne Kleider und Armreife kann man hier kaufen und große Bilder von indischen Göttern. Während Lea ein echtes Rakhi, ein Armband zum Geschwistertag, für Tim aussucht, erklärt Leas Mutter Tim die vielen verschiedenen Göttinnen und Götter auf den Bildern über dem Eingang. Einer spielt auf einer goldenen Flöte und trägt einen Kopfschmuck mit grünen Pfauenfedern. Der heißt Krishna, und neben ihm ist Durga. Die Göttin reitet auf einem Tiger und hat acht Arme. Ganesh heißt der weiße Elefant mit vier Armen, der auf einem Thron sitzt. Der gefällt Tim am besten. »Zeig mal«, sagt Tim, als Lea mit dem Armband in der Tüte zu ihnen kommt. »Nein. Das Armband ist doch eine Überraschung. Komm, wir müssen für morgen noch viel erledigen. Gulab Jamun backen. Das sind indische Milchbällchen, die bekommt der Bruder als Geschenk.« »Super«, findet Tim. »Ich liebe Geschwistertag.« »Klar«, sagt Lea. »Aber vergiss nicht: Der gute Bruder gibt seiner Schwester auch ein Geschenk.«
Zu Hause bei Lea hilft Tim beim Backen. Gulab Jamun sind Bällchen aus Milchpulver und Zucker. Man muss Kügelchen rollen und sie in einen Topf mit heißem Öl werfen. Das riecht vielleicht lecker! Leider darf Tim keine Gulab Jamun probieren, weil Lea ihn wegschickt. Sie muss zusammen mit ihrer Mama noch geheime Vorbereitungen treffen. Tim läuft über den Spielplatz nach Hause. Zum Glück wohnt er gleich gegenüber. Aufgeregt erzählt er seinem Papa vom Geschwistertag. Papa ist begeistert. »Und welches Geschenk hast du für Lea?«, will er wissen. Tim fasst sich mit der Hand an den Kopf. Mensch, das hätte er doch glatt vergessen. Er muss ja noch ein Geschenk für Lea besorgen. Aber was bloß? »Ein Armband!«, schlägt Papa vor. »Das geht nicht, das bekomme ich ja schon.« »Was Süßes?« »Nein, das bringt Lea selber mit.« »Dann vielleicht einen schönen Schal oder Handschuhe. Es wird bald Winter«, überlegt Papa. »Einen Schal hat Lea schon, den hat ihre Mama ihr gestrickt. Aber ... ich hab’s!«, ruft Tim. »Papa, wir müssen unbedingt noch einmal los. Ins Sportgeschäft!«
In der Nacht schläft Tim sehr schlecht. Ständig wacht er auf und wälzt sich von einer Seite vom Bett auf die andere. Ob Lea sein Geschenk gefallen wird? Am nächsten Morgen ist Tim früh in der Kita. Er steht am Fenster und schaut hinaus. Er friert etwas, weil er sein schickes Partyhemd mit den Flamingos angezogen hat. Da kommt das weiße Auto. Tim versteckt sein Geschenk schnell unter der Bank an der Garderobe. Lea hat sich auch schick gemacht. Sie hat einen roten Sari an und trägt Glitzerspangen. Wie eine indische Prinzessin sieht sie aus. Leas Mama trägt einen orangen Sari aus Seide und einen Haarreif mit Perlen. Auf die Stirn hat sie einen roten Punkt gemalt. Das sieht sehr interessant aus. »Zum Geschwistertag müsst ihr euch beide unter einen Türrahmen stellen. Das ist der Brauch. Und dann füttert die Schwester den Bruder mit Süßigkeiten!«, erklärt Leas Mama. »Aber wir warten noch, bis alle da sind. Sicher wollen die anderen Kinder zuschauen.« Tim stellt schon mal einen Stuhl in den Türrahmen und setzt sich hin. Die anderen Kinder haben sich im Halbkreis auf den Boden gesetzt und warten gespannt ab. Jetzt nimmt Lea einen großen Teller aus der Plastiktüte. Der ist aus echtem Silber und verziert mit kunstvollen Reliefs. Auf dem Teller liegen Mandeln, Birnenstückchen und Trauben. Die mag Tim besonders gern. Und natürlich die köstlichen Milchbällchen. Auch ein Teelicht in einem verzierten Glas steht auf dem Teller. Das zündet Leas Mama mit dem Feuerzeug an. Lea stellt den Teller vor Tim hin und bindet das Armband an seinem rechten Handgelenk fest. Es ist mit Muscheln, bunten Perlen und einer kleinen Sonne verziert. Sehr hübsch, findet Tim. Am liebsten würde er aufstehen und es den anderen Kindern zeigen. Aber Tim muss sitzen bleiben und sich von Lea füttern lassen. Lea steckt erst eine Traube, dann eine Mandel, ein Birnenstückchen und zum Schluss ein Gulab Jamum in Tims Mund. »Ich werde immer deine gute Freundin sein!«, sagt Lea. »Und ich werde dich beschützen, wie ein echter Bruder«, sagt Tim. Dann steht er auf und holt sein Geschenk. Ritsch, ratsch, ritsch, reißt Lea das Papier von dem kleinen Päckchen. »Torwarthandschuhe!«, jubelt Lea. »Und dann noch in Rot! Wieso hast du bloß gewusst, dass ich mir ausgerechnet die wünsche?« Tim grinst. »Ein guter Bruder weiß immer genau, was sich seine Schwester wünscht.«
➤ Kategorie: Gute-Nacht-Geschichten
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