»Eine Bastelschere, abgerundet, zwei Hefte DIN A4, ein Bleistiftanspitzer mit Dose, Radiergummi, Borstenpinsel in den Stärken 4, 8 und 12, ein Stehsammler …«, liest Mama von einer langen Liste ab. »Das ist langweilig!«, ruft Greta. »Steht da nicht was Schöneres drauf? Was ist mit der Schultüte?«
Mama nimmt die Brille ab. »Aber Mäuschen, die Schultüte ist schließlich selbstverständlich.« Aber so selbstverständlich ist die Schultüte gar nicht. Denn als Greta am Nachmittag mit Mama einkaufen geht, da läuft sie einfach an den vielen bunten Schultüten vorbei und kauft so uninteressante Dinge wie Stifte und Hefte und Radiergummis.
»Das hat noch Zeit, Gretchen, erst einmal müssen wir die wichtigen Dinge besorgen und dann suchen wir in aller Ruhe eine Schultüte aus.« Greta findet, dass es nichts Wichtigeres als eine Schultüte gibt. Als sie nach Hause kommen, begegnet ihnen Frau Schultz aus dem ersten Stock. »Na, Greta, bald ist es so weit, nicht wahr? Hast du denn schon eine Schultüte?« – »Nein«, sagt Greta. »Mama meint, das hat noch Zeit.«
Frau Schultz schüttelt sorgenvoll den Kopf. »Das denkt man immer. Als mein Dennis in die Schule kam, da gab es schon Tage vorher keine Schultüten mehr, jedenfalls keine anständigen. Aber ich hatte natürlich rechtzeitig eine gekauft.« Sie lächelt stolz. »Wie schön für Dennis«, sagt Mama und geht mit Greta die Treppe hoch.
Als Mama und Papa in der Küche das Abendessen vorbereiten, klingelt das Telefon. Greta nimmt ab. Vielleicht ist es Oma. Nein, es ist Isabel, Mamas Freundin. »Na, Greta-Kind, hast du denn schon eine Schultüte?«, fragt auch sie. »Nein!«, ruft Greta. »Mama meint, sie kauft sie erst später. Aber dann gibt es keine mehr, sagt Frau Schultz.« Greta schluchzt.
»Nicht weinen, Süße«, sagt Isabel. »Schultüten kauft man sowieso nicht, die muss man selber machen. Gib mir mal deine Mama.« Greta bringt das Telefon zu Mama in die Küche. »Was sagst du? Ich soll basteln? Na, du machst mir vielleicht Spaß, wann denn bitte?« Mama klingt ziemlich verärgert. Papa wuschelt Greta durch die Haare. »Zeig mir doch mal, was Mama heute alles für die Schule gekauft hat.«
Greta geht mit ihm in ihr Zimmer, obwohl sie viel lieber weiter zugehört hätte. Vielleicht kann Isabel Mama ja doch noch überreden, eine Schultüte zu basteln. »Papa? Kann Mama basteln?«, fragt Greta und öffnet ihren Schulranzen. Papa zieht einen Tuschkasten heraus. »Wow, zweistöckig! So einen hab ich mir früher immer gewünscht.«
Dann sieht er Greta an. »Deine Mama kann Tango tanzen, Schlittschuh laufen – sogar rückwärts! – , den weltbesten Pflaumenkuchen backen, Lampen aufhängen … Aber ich weiß nicht, ob sie basteln kann.« Dann wird das also auch nichts. »Ich bekomme nie eine Schultüte!«, ruft Greta verzweifelt. »Wie kommst du denn darauf?«, fragt Papa bestürzt. »Weil Mama mir keine kauft und basteln kann sie auch keine!« Papa hebt Greta hoch und schwenkt sie durch die Luft. »Eine Runde Fliegen gefällig?«
Eigentlich mag Greta das, aber heute nicht. »Runter! Lass mich runter!« »Ich rede mit Mama, das wird schon«, sagt Papa. Greta hockt sich auf den Boden und legt alles ordentlich in den Ranzen zurück. Die Stifte, den Tuschkasten, die Federtasche, die Pinsel, den Anspitzer mit Dose. Aus der Küche sind Stimmen zu hören, laute Stimmen. »Fängst du jetzt auch mit dieser blöden Schultüte an?«, faucht Mama. »Ich werde eine besorgen, es sind schließlich noch drei Wochen!« Was Papa antwortet, kann Greta nicht verstehen. Wenn Mama laut wird, wird Papa immer ganz leise. Jetzt ruft er: »Abendessen ist fertig!«
»Wann kaufen wir die Schultüte, Mama?«, fragt Greta am nächsten Morgen. Und am übernächsten und am überübernächsten. So lange, bis Mama der Kragen platzt. »Du bekommst eine Schultüte, Greta, das verspreche ich dir, aber hör endlich auf, mich damit zu nerven.« Und als Greta schon wieder anfangen will zu weinen, sagt sie: »Außerdem darfst du gar nicht dabei sein, wenn ich sie aussuche, das soll schließlich eine Überraschung werden.«
Überraschung? Benni aus dem Kindergarten hat seine schon längst, und er erzählt allen, dass sie zwei Meter hoch ist und so viel wiegt wie ein Bagger. Und ein Bagger ist auch drin, einer, auf dem man richtig sitzen und die Schaufel auf- und zuklappen lassen kann. Greta weiß zwar nicht, ob das stimmt – wie soll der kleine Benni so eine schwere Schultüte tragen – , aber auch Lisa hat ihre Schultüte schon. Sie ist rosa mit vielen grünen Kleeblättern drauf. Die sollen Glück bringen. Alle haben eine Schultüte, nur Greta nicht. Sie wird bestimmt als Einzige an dem großen Tag ohne dastehen.
Eine Woche vor der Einschulungsfeier ruft Oma an, um zu fragen, wie es ihrer Lieblingsenkelin geht. Greta sagt dann jedes Mal: »Du hast doch nur eine, Oma.« Und Oma antwortet: »Ja, aber selbst wenn ich hundert Enkelinnen hätte, wärst du mir trotzdem die liebste.« Greta lacht dann immer. Nur heute nicht. Sie erzählt Oma von ihrem großen Kummer. »Deine Mama vergisst bestimmt nicht, dir eine Schultüte zu kaufen«, versucht Oma, sie zu trösten. »Aber sie hat viel zu tun, das weißt du doch, meine Kleine.« Natürlich weiß Greta das. Mama hat gerade eine neue Arbeit angefangen, und weil sie alles richtig machen will, muss sie oft länger arbeiten, und dann holt Papa Greta im Kindergarten ab. Aber manchmal kommt er zu spät und dann ist die Erzieherin sauer. »Stefan kann die Schultüte doch auch besorgen«, sagt Oma. Mit Stefan meint sie ihren Sohn, Gretas Papa. »Papa sagt, er kann das nicht, weil er Angst hat, sie gefällt mir nicht. Und ich darf sie ja nicht sehen, weil es sonst keine Überraschung mehr ist.« »Mach dir keine Sorgen«, sagt Oma. »Alles wird gut.«
Und dann ist er da, der große Tag. Greta ist so aufgeregt, dass sie noch nicht einmal ihr Lieblingsmüsli runterbekommt. Mama bürstet ihr die Haare und flicht sie zu zwei Zöpfen, die Greta schon fast auf die Schulter reichen. »Die roten Spangen oder die blauen mit den Pünktchen?«, fragt sie. »Die blauen«, sagt Greta. »Mama, wo ist die Schultüte?«
Mama runzelt die Stirn. »Schultüte? Was denn für eine Schultüte?« Dann schlägt sie sich an den Kopf. »Himmel, die hab ich ja ganz vergessen!« Erst bekommt Greta einen Schreck, aber Mamas Mundwinkel zucken so seltsam, dass Greta ihr nicht glaubt. Bestimmt macht sie nur Spaß.
Es klingelt. »Das ist bestimmt Oma!«, ruft Greta und rennt zur Tür. Doch es ist nicht Oma, sondern Frau Schultz. Die drückt Greta eine Schultüte in die Hand. Sie ist ziemlich groß, und man kann nicht mehr erkennen, ob sie grün oder blau ist. Es sind Fußballspieler drauf. Das Krepppapier ist eingerissen. »Das ist die von Dennis. Sie lag im Keller und ist ein wenig staubig«, sagt Frau Schultz. »Vielleicht nicht das Richtige für ein Mädchen, aber besser als nichts. Oder hast du jetzt doch eine?« Sie schaut neugierig in den Flur. »Vielen Dank, Frau Schultz«, sagt Mama und nimmt ihr die Schultüte ab. »Das ist sehr nett von Ihnen. Wir geben sie Ihnen natürlich zurück.« »Ich hab Äpfel reingetan. Aus unserem Schrebergarten«, sagt Frau Schultz. »Äpfel sind gesund.«
»Vielen Dank«, sagt Mama noch einmal und schließt vor Frau Schultz die Tür. Papa ist aus dem Schlafzimmer gekommen, er knöpft sich sein Hemd zu. »Was ist das denn für ein hässliches Teil?« Mama lacht. »Die hässlichste Schultüte von allen!« »Da fällt mir übrigens was ein.« Papa geht ins Schlafzimmer, und als er zurückkommt, hat er eine Schultüte in der Hand. Bei dieser kann man die Farbe gut erkennen. Ein knalliges Rot. Und oben drin steckt eine bunte Windmühle. »Ich hab extra eine Tüte gekauft, auf der nichts drauf ist«, sagt Papa. »Keine Elfen, keine Dinos, keine Ponys … weil ich nicht wusste, was dir gefällt.« Wenn Greta ehrlich ist, dann hätte sie sich eine Schultüte gewünscht, die nicht einfach nur rot ist. Papa drückt sie Greta in den Arm. Die Schultüte ist ziemlich schwer. »Was ist da drin? Süßigkeiten?« »Nichts zum Naschen«, sagt Papa. »Holztiere für deinen Bauernhof.« »Wo hast du die denn die ganze Zeit versteckt?«, fragt Mama erstaunt.
»In der Garderobe hinter den Wintermänteln«, sagt Papa. Und wieder klingelt es. Und wieder ist es nicht Oma, sondern Mamas Freundin Isabel. Mit einer Schultüte! »Selbst gebastelt«, sagt Isabel stolz. Die Schultüte ist nicht ganz so groß wie die von Papa. Sie ist ein wenig schief und über und über mit Clownsgesichtern beklebt. Greta mag keine Clowns, aber das sagt sie nicht, weil sie Isabel nicht traurig machen will. »Na, wie findest du sie?« »Ich finde sie … lustig«, sagt Greta. Sie hebt die Tüte hoch. »Die ist ja ganz leicht.« »Sie ist mit Wolle gefüllt«, sagt Isabel. »Ich zeig dir gern, wie man strickt oder häkelt.« Als es ein drittes Mal klingelt, steht endlich Oma vor der Tür. »Und noch eine Schultüte!«, ruft Mama. »Ich wusste ja nicht, ob du es rechtzeitig schaffst«, sagt Oma. Omas Schultüte ist gelb und es sind lauter Blumen drauf. Das Krepppapier ist mit einer großen blauen Schleife zugebunden. »Die Kekse darin hab ich extra für dich gebacken«, flüstert Oma Greta zu. »Mandelplätzchen und Zimtschnecken.« Greta umarmt Oma. Mama räuspert sich. »Eigentlich müsste ich beleidigt sein, weil mir anscheinend keiner von euch zutraut, dass ich es schaffe, eine Schultüte zu besorgen. Aber …«, sie öffnet den Besenschrank, »… trara! Hier ist sie.«
Es ist die schönste Schultüte, die Greta je gesehen hat. Nicht zu groß und nicht zu klein. Sie ist blau. Aber nicht irgendein Blau. Es schimmert und leuchtet wie das Meer. Oder der Himmel nach einem Gewitter. Schimmern und leuchten tun auch die vielen bunten Sterne, mit denen die Tüte übersät ist. Es sieht aus wie ein kleines Feuerwerk. Oben ist sie mit türkisfarbenem Seidenstoff verschlossen, nicht mit langweiligem Krepppapier. Vorsichtig nimmt Greta die Schultüte in den Arm. Sie fühlt sich richtig an. Nicht zu schwer und nicht zu leicht. Einfach perfekt. Greta will auch gar nicht wissen, was drin ist, sonst ist es ja keine Überraschung mehr. »Und?«, fragt Oma. »Welche nimmst du mit?« Nacheinander schaut Greta die Schultüten an. Die große rote von Papa. Die ein wenig schiefe mit den Clownsgesichtern von Isabel, die fröhlich gelbe von Oma, ja, und auch die eingestaubte mit den Fußballern und dem eingerissenen Krepppapier. »Die lässt du natürlich hier«, sagt Mama. Greta betrachtet die Schultüte von Frau Schultz. Die Fußballspieler sehen irgendwie traurig aus, so als ob sie wüssten, dass sie gleich wieder im Keller landen werden. Und auch die Clownsgesichter auf der Tüte von Isabel scheinen die Mundwinkel zu verziehen, so als wollten sie sagen: »Nimmst du uns etwa nicht mit?«
Die Blumen auf Omas Schultüte lassen die Köpfe hängen und das Rot auf der von Papa wird blass und blasser. »Die müssen alle mit«, sagt Greta entschieden. »Alle fünf!« Papa trägt zwei Schultüten, Mama und Oma tragen je eine und Greta trägt die schönste Schultüte von allen. Die Sterne funkeln und leuchten. Aber auch die anderen vier Schultüten sehen fröhlich aus. Die Fußballspieler kicken den Ball ins Tor, die Clowns schneiden Grimassen, die Blumen recken sich der Sonne entgegen und die Windmühle dreht sich ratternd im Wind. Da kommt Lisa mit ihrer Glückskleetüte im Arm auf Greta zu. Und was hat sie da in der anderen Hand? Eine kleine, die aussieht wie das Kind der großen, genauso rosa und mit vielen Kleeblättern übersät. Greta ist fast ein wenig neidisch. »Die Verkäuferin meinte, die ist für die jüngeren Geschwister«, sagt Lisas Mutter. »Aber ich hab ja keine«, sagt Lisa und hält Greta die kleine Schultüte hin.
»Die ist für mich?«, fragt Greta erstaunt. »Echt?« Lisa nickt. »Ich hab gedacht, die schenke ich dir, weil du gesagt hast, du bekommst keine.« »Wohl eher zu viele«, sagt Lisas Mutter und lacht. Greta strahlt. »Fünfeinhalb Schultüten sind genau richtig.«
➤ Kategorie: Gute-Nacht-Geschichten
➤ Text von Sabine Ludwig, Illustrationen von Susanne Göhlich. Aus: Das verflixte Alfa-Bett: Schultütengeschichten" im Dressler-Verlag
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➤ Hier können Sie die Geschichte kostenlos downloaden: Fünfeinhalb Schultüten