Kleine Schildkröte gab ihrer Großmutter Nana einen dicken Kuss. Nana konnte nicht mehr gut sehen. Aber wer ihr den Kuss gegeben hatte, wusste sie genau, denn sie sagte: »Pass gut auf dich auf!« – »Mach ich!«, rief Kleine Schildkröte. »Und ich bringe dir ganz viel Hasenpinsel für deinen Husten mit!«
Nana lächelte. Und dann war Kleine Schildkröte auch schon weg. Denn heute durfte sie mit Weißer Adler, dem Medizinmann, im Wald Heilpflanzen sammeln. Darauf freute sie sich schon sehr.
Weißer Adler ließ gerade das Kanu ins Wasser, als Kleine Schildkröte angerannt kam. »Wir haben Glück. Heute ist ein schöner Tag. Das Wetter ist gut und der See spiegelglatt«, sagte Weißer Adler zufrieden. »Und wo fahren wir hin?«, fragte Kleine Schildkröte gespannt. »Auf die andere Seite des Sees. Da drüben wachsen die besten Indianerrüben. Ihre Wurzeln sind gut gegen Kopfschmerzen.« Kleine Schildkröte lachte und reimte: »Drüben wachsen die besten Rüben.« Und schwups, saß sie im Kanu. »Und wir brauchen ganz viel Hasenpinsel für Nana.« »Ja, ja«, antwortete Weißer Adler und sprang ebenfalls ins Kanu. Die beiden fuhren los. Weißer Adler saß vorne und Kleine Schildkröte hinten. Und zwischen ihnen lagen jede Menge Körbe für die Heilpflanzen. Kleine Schildkröte war schon oft Kanu gefahren. Und paddeln konnte sie auch. Im Nu waren sie auf der anderen Seite.
Weißer Adler zog das Kanu aus dem Wasser, und die beiden marschierten mit ihren Körben los. Der Medizinmann kannte sich bestens aus und wusste genau, wo er suchen musste. Wenig später waren alle Körbe voll mit Indianerrüben und Hasenpinsel. Aber es gab noch viele andere Pflanzen. Einige davon hatte Kleine Schildkröte noch nie gesehen. Neugierig sah sie sich die unbekannten Pflanzen an. Und plötzlich hatte sie eine Idee: »Gibt es nicht auch eine Pflanze, mit deren Hilfe man wieder besser sehen kann?« »Nein, so eine Pflanze gibt es leider nicht«, antwortete Weißer Adler und lachte.
Kleine Schildkröte wurde traurig und sagte: »Schade. Dann kann Nana nie wieder richtig sehen.« »Sei nicht traurig, Kleine Schildkröte«, tröstete Weißer Adler. »Die wichtigen Dinge sind für das Auge unsichtbar. Am besten sieht man mit dem Herzen.« Das verstand Kleine Schildkröte nicht. Wie konnte man mit dem Herzen sehen? Aber Weißer Adler war schon weitergegangen.
Mit vollen Körben paddelten die beiden zurück. Als sie in die Nähe des Ufers kamen, hörten sie ein leises Winseln. Ganz in der Nähe war ein großer Biberbau. Weißer Adler steuerte darauf zu. Und als sie näher kamen, entdeckten sie einen kleinen Biber, der zwischen den Zweigen des Baus eingeklemmt war.
»Oje! Der Arme!«, rief Kleine Schildkröte. »Wir müssen ihn befreien!« Vorsichtig drückte Weißer Adler die Zweige zur Seite. Und schon war der kleine Biber wieder frei. Schnell schwamm er in den sicheren Bau zurück. »Jetzt ist er wieder glücklich«, sagte Kleine Schildkröte erleichtert. »Woran siehst du das?«, fragte Weißer Adler. Kleine Schildkröte dachte nach.
Mit den Augen hatte sie das Glück des kleinen Bibers nicht sehen können. Da verstand sie, was Weißer Adler gemeint hatte. Sie hatte das Glück mit ihrem Herzen gesehen. Und plötzlich hatte sie es sehr eilig, nach Hause zu kommen. Denn auch wenn Nana den vielen Hasenpinsel nicht sehen konnte, wusste sie, wie lieb Kleine Schildkröte sie hatte. Wie gut, dass man auch mit dem Herzen sehen kann!
➤ Kategorie: Gute-Nacht-Geschichten
➤ Text von Petra Maria Schmitt/Illustrationen von Annette Fienieg aus dem Buch "Kleine Indianer-Geschichten zum Vorlesen", ellermann im Dressler Verlag
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