Wenn Kinder zu früh zu viel Verantwortung übernehmen müssen, nennt man das Parentifizierung. Statt unbeschwert aufzuwachsen, kümmern sie sich um Geschwister, trösten Eltern oder übernehmen Aufgaben, die eigentlich in Erwachsenenhände gehören. Die Folgen können bis ins Erwachsenenalter reichen. Erkennst du die Anzeichen bei deinem Kind? Hier erfährst du, wie du gegensteuern kannst.
Kinder sind heute oft "kleine Erwachsene". Wir kommunizieren mit ihnen auf Augenhöhe, stellen ihre Bedürfnisse an oberste Stelle und lassen sie viel im Familienalltag selbst entscheiden – zu viel? Versteht mich nicht falsch, diese Erziehungshaltung hat viele Vorteile, sie birgt aber auch Risiken, wie Familientherapeutin Birgit Salewski im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk warnt.
Denn manchmal verschwimmen die Grenzen und Kinder übernehmen zu viel Verantwortung. "Kannst du kurz auf deinen Bruder aufpassen?" oder "Hilf mir mal mit dem Haushalt" – solche Bitten sind normal. Problematisch wird es, wenn daraus ein Dauerzustand wird und das Kind seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt, um die Familie zu unterstützen.
Was ist Parentifizierung? Expertin erklärt das Phänomen
Familientherapeutin Birgit Salewski definiert Parentifizierung als Rollenverschiebung in der Familie, z. B. wenn Kinder vermehrt folgende Aufgaben und Rollen übernehmen:
- Ständige Betreuung und Versorgung jüngerer Geschwister, Erledigung von Behördengängen, komplette Übernahme des Haushalts
- Übernahme klassischer Erziehungsaufgaben (Förderung, Unterstützung, Trösten)
- Ansprechpartner für einen Elternteil sein (das Kind berät bei Erziehungsfragen, bei Fragen zur Lebensplanung oder finanziellen Themen)
Diese 5 Anzeichen zeigen, dass dein Kind zu viel Verantwortung trägt
1. Dein Kind wirkt oft erschöpft und überfordert
Wenn dein Kind häufig müde wirkt, Schlafprobleme hat oder über Kopf- und Bauchschmerzen klagt, könnte dies auch ein Zeichen für emotionale Überforderung sein. Familientherapeutin Birgit Salewski erklärt im aktuellen Interview mit dem BR: "Kinder, die in einer Parentifizierung aufwachsen, fühlen sich oftmals überfordert, alleingelassen und 'anders' als ihre gleichaltrigen Bekannten und Freunde."
2. Es hat kaum Zeit für Freunde und Spiel
Kinder brauchen Zeit zum Spielen und für Freundschaften. Wenn dein Kind ständig mit Familienaufgaben beschäftigt ist, bleibt wenig Raum für altersgerechte Aktivitäten. "Durch die frühe und übermäßige Verantwortungsübernahme sind diese Kinder zu viel mit anderen Familienmitgliedern als mit ihrer eigenen Entwicklung beschäftigt", warnt Salewski.
3. Es sorgt sich übermäßig um andere Familienmitglieder
Macht sich dein Kind ständig Sorgen um dein Wohlbefinden? Fragt es häufig nach, ob es dir gut geht oder ob es helfen kann? Solche übermäßigen Sorgen können auf eine emotionale Parentifizierung hindeuten.
4. Es übernimmt regelmäßig Erwachsenenaufgaben
Wenn dein Kind regelmäßig Geschwister betreut, den Haushalt schmeißt oder bei Behördengängen übersetzt, übernimmt es möglicherweise zu viel Verantwortung. Besonders in Familien mit Migrationshintergrund, bei Alleinerziehenden oder in Patchworkfamilien kann dies vorkommen.
5. Es verhält sich oft altklug und erwachsen
Parentifizierte Kinder wirken oft "älter" als sie sind. Sie sprechen wie kleine Erwachsene, geben anderen Ratschläge und übernehmen in Konfliktsituationen eine vermittelnde Rolle. Während dies auf den ersten Blick beeindruckend wirken kann, ist es oft ein Zeichen dafür, dass das Kind seine eigene Kindheit zu kurz kommen lässt.
Warum werden Kinder zu "kleinen Erwachsenen"?
Hinter einer Parentifizierung steckt laut Salewski "meist keine böse Absicht, sondern oft eine Notlage innerhalb des Familiensystems". Besonders gefährdet sind Familien, in denen ein Elternteil psychisch oder körperlich erkrankt ist, bei Suchtproblemen, aber auch bei Überforderung der Eltern.
So hilfst du deinem Kind, wieder Kind zu sein
- Erkenne das Problem an: Der erste Schritt ist, zu erkennen, dass dein Kind zu viel Verantwortung trägt.
- Übernimm wieder Elternaufgaben: Mache deutlich, dass du als Erwachsener die Verantwortung trägst. Sage konkret: "Das ist meine Aufgabe als Mama/Papa, nicht deine."
- Hole dir Unterstützung: Wenn du überfordert bist, suche dir Hilfe – sei es durch Familie, Freunde oder professionelle Angebote wie Familienhelfer*innen oder Erziehungsberatungsstellen.
- Fördere kindgerechte Aktivitäten: Ermutige dein Kind, mit Gleichaltrigen zu spielen und altersgerechten Hobbys nachzugehen.
- Achte auf eine klare Rollenverteilung: Besonders in Trennungsfamilien oder nach Verlusten ist es wichtig, dass Kinder nicht in die Rolle des "Ersatzpartners" rutschen.
Hilfe bei Parentifizierung:
Eine Familientherapie kann betroffenen Eltern und Kindern helfen. Erziehungsberatungsstellen findest du in deiner Nähe, z. B. über die Caritas oder Diakonie.
Langfristige Folgen von Parentifizierung
Unbehandelt kann Parentifizierung bis ins Erwachsenenalter nachwirken. Salewski beobachtet bei Betroffenen häufig "ein geringes Selbstwertgefühl, hohe und überhohe Verantwortungsbereitschaft, Schuldgefühle, wenn sie sich um sich selbst kümmern wollen, und immer wieder eine gewisse Erschöpfung." Auch im Berufsleben neigen sie oft dazu, sich zu überfordern und Grenzen nicht zu setzen.
Verantwortung ja, Überforderung nein
Kinder sollen durchaus altersgerechte Verantwortung übernehmen – das fördert ihre Entwicklung. Der Unterschied zur Parentifizierung liegt wie so oft im Maß der Verantwortungsbereiche. Salewski betont: "Bei einer Parentifizierung ist entscheidend, dass Kinder in einem solchen Maße Verantwortung anstelle ihrer Eltern übernehmen, dass sie situativ oder andauernd überfordert sind." So weit sollte es nicht kommen.
Denn Kinder brauchen in vielen Bereichen unsere Unterstützung, nicht andersherum. So geben wir ihnen den Raum, um einfach Kind sein zu dürfen.